Schon auf der ersten Etappe habe ich Gottfried Oel begleitet.
Mein Ziel war es, am ersten Tag möglichst langsam und vorsichtig zu starten, schon, weil das Profil des Tages zum Rasen verleitet: fast 30 Kilometer flach, dann einen Anstieg von 1.000 Höhenmetern auf nur 10 Kilometer und anschließend wieder runter.
Gottfried erzählte mir auf der ersten Etappe seine Geschichte, die mich sehr bewegt hat. Er hatte sich im Februar des Jahres noch den Mittelfuß gebrochen und daher hatte er einen enormen Trainingsrückstand. „Eigentlich wollte ich den Start absagen, da ich aber keinen Ersatzstarter stellen konnte, wäre das gezahlte Geld nahezu weg gewesen!“ Also ging er dennoch an den Start. „Gotti“, wie seine Freunde ihn nennen, hat sich diesen Etappen-Lauf selbst zum 50. Geburtstag geschenkt, aber seine Verletztung ereilte ihn genau am Abend des Tages, an dem er am Mittag noch die Teilnahmegebühr überwiesen hatte. Welch ein Pech!
Ein wenig Laufpraxis hat es sich kurz vor dem SJM doch noch geholt. Als Brems- und Zugläufer für 4:30 Stunden beim Marathon in Regensburg konnte es zumindest sicher sein, dass diese Strecke für ihn wieder zu bewältigen war.
Kurz vor der dritten Versorgungsstelle musste Gottfried aber meinem hohen Gehtempo berauf Tribut zollen und er ließ sich ein wenig zurückfallen, während ich mir mit dem lustigen Detlev Schiller einen neuen Laufpartner gesucht habe, um den glitschigen Abstieg durch den Regen-Dauerguß zu bewältigen.
Auf der fünften Etappe lief Gottfried dann einen Kilometer vor dem Ziel auf mich auf. An diesem Tage bekam ich die schmerzhafte Muskelverhärtung im linken Oberschenkel, konnte nur noch tippeln und wurde vor allem bergab permanent überholt. Der gute Start am Tage war verloren, ich war frustriert und langsam. Aber Gotti und ich liefen gemeinsam ins Ziel, das war ein sehr schöner Moment, der mich mit dem Tag versöhnte.
Am sechsten Tag aber lief ich erneut bis kurz vor der dritten Verpflegung mit Gottfried und Winfried aus Bremen und ich war froh, dass er bei mir war. Zwar halfen die Tapes auf dem Oberschenkel, dafür bekam ich noch eine äußerst schmerzhafte Sehnenscheidenentzündung in der linken Fußfessel. Diese Sehnenscheidenentzündung machte ein schnelles Laufen scheinbar unmöglich und deshalb hatte ich keinerlei Ambitionen auf eine ordentliche Tagesplatzierung und wollte nur kurz vor dem Ablauf des Zeitlimits im Ziel sein. Bei der zweiten Versorgung sagte man uns, dass wir noch 45 Minuten vor der Cut-Off Zeit seien, als die dritte Versorgungsstelle aber nicht zeitlich planmäßig kam, wusste ich, dass es noch sehr, sehr eng werden würde. Also lies ich die beiden stehen, nahm eine Schmerztablette und zündete den Turbo, allen Schmerzen zum Trotz.
Ich erreichte die Ziellinie des Tages rund 3 1/2 Minuten vor dem Zeitlimit, aber Winfried und Gottfried hatten richtig Pech: sie verliefen sie kurz nach der letzten Versorgungsstelle, haben das aber sehr schnell bemerkt. Also liefen sie umgehend zurück. Aber leider waren die Bändel schon entfernt worden.
Das Plärren und Schreien der beiden erreichte im Wald aber niemanden. Winfried ist dann, von der Kraft der Verzweiflung ungewöhnlich animiert, Gottis Rufen und Blicken schnell weit enteilt und so stand Gottfried nun alleine da oben am Gratweg und hat sich langsam vorwärts getastet. Irgendwann fand er dann wieder den Höhenweg, dem er folgen konnte und hielt immer sorgenvoll Ausschau nach den den Bändel-Abnehmern und hoffte, dass die sich wieder einholen ließen.
Er rutschte über schlammig zertrampelte Almwiesen und versuchte sich am Streckenplan zu orientieren, getrieben von dem Glauben, es ginge nur noch 7km bergab. Er folgt dann der Einladung einer Straße, die ihn abwärts ins Aaretal führt. Wo das Etappenziel „Balsthal“ leigt, wusste er zu dieser Zeit noch nicht, dann trifft er unten, verzweifelt und freudig zugleich, drei kräftig gebaute Wanderer, mit denen er sich zu unterhalten versucht.
Gotti beschreibt später dieses Gespräch als „schwer, obwohl die drei durchaus Deutsch sprachen“. Eines versteht er aber schon: „Du bist drei Stunden von Balsthal entfernt. Gehst über’n Berg, bist da!“
Es waren da schon weit über 7 Stunden vergangen, das Zeitlimit kam immer näher. Gotti ist frustriert, fühlt sich allein gelassen und hätte jetzt gerne einen Mitläufer gehabt, der etwas Tröstendes sagt. Aber Winfried und ich waren ja schon weg, wahrscheinlich hätten wir alle zusammen bleiben sollen. So muss er sich in der Kunst des „inneren Dialogs“ üben, sich Mut machen und sich sagen: „Das ist OK so, wie es jetzt ist!“
Also wieder den Berg rauf, auf den Höhenweg, alles im Bewusstsein, das Zeitlimit unmöglich erreichen zu können.
Gotti erzählt mir danach: „Da es sowieso egal war, lohnt sich jetzt für mich der schöne Blick in die Landschaft – und die Juralandschaft versöhnt mich. Ich bin 6 Tage unterwegs, was habe ich alles nicht gesehen von dieser grandiosen, ins Herz gehenden Landschaft. Geheftet waren meine Augen ausschließlich auf den Weg vor mir, wie stelle ich die Füße zwischen die Wurzel und wie zwischen das weiße Kalkgestein, um nicht zu stürzen, um weiter voranzukommen. Paradox ist es schon – hier hätte ich mir 500 mal den Fuß brechen können, aber passiert ist es zu Hause auf der Teerstraße, nachts bergablaufend, ohne visuellen Kontakt mit dem Untergrund. Jetzt, aus dem Wald heraustretend, warten an der letzten Alm vor dem 7 km langen Abstiegsstück nach Balsthal die Bänder-Einsammler. Zwei Bänder, die sie vergessen haben, liefere ich noch mit Genugtuung bei ihnen ab, aber ansonsten überwiegt jetzt schon mein Gefühl der Dankbarkeit, die beiden wieder getroffen zu haben.“
Ich glaube, ich wäre richtig sauer gewesen. Aber Gotti? „Klar trug ich noch einen schweren Stein des Vorwurfes in mir, aber ich warf nicht damit, auch später nicht. Freundlich und milde werde ich von den beiden und einer weiteren Läuferin, die uns zu Hilfe kam, auf serpentinen Waldwegen nach Bahlstal begleitet. Ich kann noch bis ins Dorf laufen, dann bin ich aber auch völlig erschöpft. Nach 9 Stunden und 14 Minuten komme ich am Marktplatz in Balsthal an, diesmal als Letzter. Mir war es egal, immerhin wurde ich von Urs abschließend mit ungeduldiger Euphorie begrüßt.“
Winfried überzog mit 12 Minuten nur geringfügig, aber Gottfried entschied sich nach den Strapazen der sechsten Etappe dafür, dass er am letzten Etappentag nur noch in der 175km-Gruppe über die halbe Restdistanz starten würde. Mir hat das für ihn sehr leid getan, wahrscheinlich war es aber die richtige Entscheidung gewesen. Ein Zweifel jedoch verbleibt bei mir. Was wäre gewesen, wenn ich bei den beiden geblieben wäre?
Alles in allem war Gotti für mich einer der ehrlichsten Freunde geworden, stets freundlich und immer lächelnd. Er hat stets liebevoll von seinen zwei Töchtern Theresa und Sarah gesprochen und gezeigt, wie viel Herzblut in allem steckt, was er tut. Danke Gotti für die Begleitung und bis zum nächsten Mal!
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