I’m Your Anti Hero

Pfingstsamstag, abends gegen 19 Uhr. 100 Kilometer sind gelaufen oder gegangen und seit einigen Stunden habe ich einen Druck auf den Ohren, als wäre ich schnell von einem Berg ins Tal gefahren. Ich halte mir öfters die Nase zu und versuche, auszuatmen, damit die Ohren wieder frei werden, aber es hilft nur Sekunden lang. Der Hypochonder in mir macht sich Sorgen. Der Hypochonder in mir macht sich immer Sorgen. Soll es, kann es so noch über 24 Stunden weiter gehen? Die TorTOUR de Ruhr war eine Tortour für mich an diesem Tag, mutmaßlich wie für viele.
Es war extrem heiß an diesem Pfingstwochenende, aber das war es 2010 auch gewesen. Und doch war vieles anders als zwei Jahre zuvor.

Mein Trainingszustand ist zurzeit nicht so wie 2009 und 2010, aber Läufe wie die TTdR werden definitiv nicht mit den Beinen entschieden. Ob Du finished oder nicht entscheidest Du im Kopf, bewusst oder unbewusst. Und ich wollte nicht wirklich finishen. Sämtliche Ausreden hatte ich mir schon vor dem Start zurecht gelegt gehabt.
„Die TTdR 2012 wird schwerer für mich als die TTdR 2010,“ sagte ich mir immer. 2010 ging es darum, ob ich es schaffen kann. 2012 ging es darum, ob ich es wirklich schaffen will.
Motiviert bis in die Haarspitzen startete ich 2010, 2012 startete ich mit dem guten Gefühl, Teil zu sein einer großen und lieben Lauftruppe, Teil eines fantastischen Events und Teil eines großen gemeinsamen Ziels.

Aber das reicht nicht, kann nicht reichen. Nicht für solche extremen Läufe wie die TTdR. Du musst leiden wollen, Du musst bereit sein, an nichts anderes zu denken wie daran, irgendwann am nächsten Tag diese verdammte orangene Stele zu küssen. Schmerzen müssen sein und Du musst sie aushalten wollen. Am besten ist es, sich einen externen Grund zu suchen, warum Du unbedingt finishen musst. Der Runningfreak Steffen Kohler hat es da richtig gemacht. Seine Spendenaktion, seine öffentlichen Auftritte im Fernsehen und im Radio, der ganze Hype um die gute Tat zu Gunsten der Ingelheimer Platte, all das lässt Dich Schmerzen leichter ertragen und jeden Gedanken an das Aussteigen sofort verfliegen.

Ich hatte diese externen Motivatoren nicht und war allein gelassen mit meinen Gedanken. Und ich bin nun mal kein Held. Ich dusche warm und schätze das Treffen von Lauffreunden und das Kennenlernen von Menschen höher als das Finish an sich.

Der Sänger Marlon Rudette singt das so schön: „I’m your Anti Hero.“ Und genau so fühle ich mich. Ich wäre gerne anders, stärker und schneller. Härter zu mir selbst und besser zu den Menschen um mich herum. Dieses Anti Hero sein habe ich jetzt ein paar Mal geübt. Meist war es eine echte Tragödie.

Und Marlon Rudette stellt in diesem Lied diese Frage: „Kannst Du Deine Rolle spielen in dieser Tragödie?“
(Klicken zum Vergrößern)Nein, denke ich da, diese Rolle kann ich nicht gut spielen.

Zwar gibt es tatsächlich einen kurzen Moment der Befriedigung, eine Entscheidung treffen zu können, die viele nicht treffen wollen. „Death before DNF“ ist mehr als nur eine Lebenseinstellung. Aber nach diesem kurzen Gefühl der Zufriedenheit folgt bei mir das tiefe und lange Tal der Tränen, der wochenlange Frust und die andauernde Angst vor dem nicht mehr geliebt werden.
Und es folgt das Abtauchen, das Verstecken. Darin bin ich wirklich gut, leider.

Manche von Euch haben in den letzten drei Wochen nachgefragt, haben bemerkt, dass nach der TTdR manches anders war für mich wie davor. Dafür bin ich dankbar. Es hat mir Kraft und Mut gegeben und auch Ansporn, aus meinem Käfig heraus zu kommen.

Und jetzt ist es genau so, wie Westernhagen gesungen hat:

Ich bin wieder hier, in meinem Revier,
war nie wirklich weg, hab mich nur versteckt.
Ich rieche den Dreck, ich atme tief ein
und dann bin ich mir sicher, wieder zu Hause zu sein.

Gestern lief ich spontan bei Ulla und Rolf den Biggesee-Marathon. Es war eine richtig nette Familienveranstaltung. Julia Vieler war da und eine ganze Truppe von TorTOURisten, viele, die es wurden, manche, die es gerne geworden wären. Es war ein großes „Hallo“ an der Startline im Attendorner Dauerregen. Und es war auch richtig schön, wann man sich auf der Laufstrecke gesehen hat.
Und keiner zeigte mit Fingern auf mich, kein TorTOURist und keiner der anderen Lauffreunde, niemand erweckte den Eindruck, dass mein Ausscheiden bei der TTdR ein Problem für ihn war. Ich bin immer noch ein Teil der großen Familie der Ultraläufer.

Auch deshalb bin ich jetzt wieder hier, ich verstecke mich nicht mehr und finde mich wieder zufrieden in meinem Revier, in unserem Revier, dem kleinen und feinen Laufkosmos.

Ich schmeckte den vielen Regen, der während des Laufs auf uns herniederprasselte und genoß den Dreck der vom Regen aufgeweichten Singletrails. Und ich bin froh, wieder zu Hause zu sein.

Schon letzte Woche habe ich in Amstelveen bei Amsterdam einen 50K Lauf absolviert, ganz still und heimlich, nachdem ich seit der TTdR mit dem Laufen ausgesetzt hatte. Und dann habe ich eine Woche lang wieder vernünftig trainiert, fast so wie früher. Und beides hat mir am Biggesee geholfen.
Nachdem ich ja lange kaum mehr innerhalb einer Woche trainiert habe, habe ich gestern gesehen, dass ein strukturiertes Training durchaus helfen kann. Und so habe ich eine Entscheidung getroffen. Ich werde nun eine Woche lang vernünftig trainieren, am kommenden Wochenende lange laufen gehen, vielleicht in Brühl, vielleicht woanders.

Und dann geht es anschließend in die Alpen. Eine Woche Berge und Täler genießen, einfach einen Track von GPSies laden und die Strecke ablaufen. Um Höhenmeter zu sammeln. Um die Oberschenkel auf 200 Höhenmeter rauf und runter pro Stunde vorzubereiten. Und auch, um wieder Selbstvertrauen zu tanken. Für die Herausforderungen, die dieses Jahr noch anstehen.

Aber weil ich eben ein Anti Hero bin, werde ich mich bis Ende August vor allem mit einer Sache beschäftigen. Ich werde mich damit beschäftigen, zuzusehen und zu kommentieren, wie Andere trainieren, wie Andere laufen gehen. Ich werde mich damit beschäftigen, jemanden zu portraitieren, der das genaue Gegenteil eines Anti Heros ist, einem Menschen, der klare Ziele hat und bereit ist, dafür Einschränkungen zu akzeptieren. Einem Menschen, den ich menschlich wie läuferisch bewudere, der für mich ein echtes Vorbild ist.

Darauf freue ich mich sehr. Aber davon erzähle ich in den nächsten Tagen …