Knapp 190 Kilometer waren gelaufen und der Frust des Stoppelfeldes und der überstiegenen Zäune nagte am Sonntag Morgen noch an mir. Die Nacht war kurz und unruhig gewesen, immerhin sind wir ja erst sehr spät in unsern Lagern im Wohnmobil gewesen. Der Morgen graute schon und ich befürchtete, gar nicht schlafen zu können, weil ich einer derjenigen bin, die stets aufwachen, wenn es hell wird.
Aber ein wenig Schlaf durfte sein, sollte sein, musste sein. Auch für Hauke. Und dann musste er wieder laufen und Susanne begleitete ihn. Ich war für das Frühstück zuständig, da „unsere Mutter“ Thomas Unterstützung brauchte. Wenigstens am Sonntag sollte es einen Touch von Luxus geben. Aber alles, was Mühe macht, war gestrichen.
Kein Frühstücksei, schon gar kein Omlett. Also holten wir frische Brötchen, ein paar Croissants und für den Nachmittag insgesamt acht Stücke Kuchen.
Nicht jedes Kuchenstück hat allerdings den Sonntag Nachmittag erlebt.
Susanne und ich teilen dabei eine Leidenschaft und ich war sehr froh, das in diesem Moment zu merken. Weil ich ein Fan von Mohnkuchen bin und weil ich unbedingt wenigstens ein Stück Mohnkuchen haben wollte, hatten wir insgesamt drei Stücke Mohnkuchen gekauft, zwei Stücke Mohnstreusel, den ich so liebe und ein Stück Mohnkuchen mit einem Eierstich.
Susanne nahm sich einen der Mohnstreusel und sagte, dass sie Mohn in jeder Form lieben würde. Er würde so schön „high“ machen – ich war begeistert!
In meiner Familie hält sich die Liebe zum Mohn in engen Grenzen, aber nun kenne ich jemanden, mit dem ich in rauchigen Hinterzimmern und in dunklen Bahnhofsecken der gemeinsamen Sucht frönen kann.
Als Susanne im Wohnmobil saß und über Mohn philosophierte, dachte ich unweigerlich an das WM-Endspiel Deutschland gegen die Niederlande 1974. Ich war damals knapp dreizehn Jahre alt und es war mein erstes Endspiel vor dem Fernseher. Die Spieler waren noch schwarz/weiß, der Fernseher klein und mit nur einer Box ausgestattet, aber meine Mutter hatte ein ganzes Blech Mohnstrudel gebacken. Für die ganze Familie, für fünf Personen.
Und dann machte meine Mutter gleich zwei Fehler:
1. sie stellte das Blech auf den Esszimmertisch und
2. sie ließ meinen Bruder und mich alleine das Endspiel ansehen.
Hast Du Dir schon einmal ein spannendes Fußball-Endspiel angesehen und vor Dir stand ein riesiger Mohnstrudel? Ja? Dann verstehst Du, dass nach 90 Minuten das Blech leer war. Mohn ist halt so eine Sache …
Schade, dass ich damals Susanne noch nicht kannte. Andererseits hätten wir dann den Mohnstrudel durch drei teilen müssen. Aber lustig wäre es bestimmt gewesen.
Nach dem Frühstück lief ich mal mit den beiden, mal nur mit Hauke, mal machte ich wieder eine Pause, damit ich erneut die Nachtschicht übernehmen konnte. Bemerkenswert war vor allem, dass es unglaublich viele Schlösser in Sachsen-Anhalt gibt. Schön restaurierte Schlösser und auch Schlösser, die noch nicht zu den „blühenden Landschaften“ gezählt werden können.
Aber sonst ist doch vieles traurig gewesen. Ortschaften, in denen es weder Bürgersteige noch hübsche Vorgärten gab, Menschen, die traurig aussahen und landwirtschaftliche Gebäude, wahrscheinlich ehemalige LPG’s, die bei der Wende schon alt und marode waren und denen die letzten fast 21 Jahre dann den Rest gegeben haben.
Schöne, neue und renovierte Häuser waren genauso an der Strecke wie Häuser, die nicht mal in der Nachkriegszeit charmant ausgesehen haben.
An ein Haus erinnere ich mich noch ganz besonders gut. Es war direkt an der Elbe gelegen, genau dort, wo die Zufahrt ins Örtchen war, also in einer wirklich fast optimalen Lage. Das Haus war riesig und man konnte noch gut erkennen, wo die Terrasse gewesen war. Es muss einmal ein Restaurant gewesen sein, aber mittlerweile fehlt der Boden im Restaurant, vom Dach sind nur noch Rudimente erhalten und die einzigen Gäste sind Dauergäste.
Büsche und Bäume wachsen seit Jahren da, wo sich früher Menschen vergnüngt haben. Das Gelände ist mit Bauzäunen abgeriegelt und eine Dixie-Toilette steht davor und bewacht dieses Anwesen.
Hauke hat diese Dixie-Toilette auch aufgesucht. Thomas war darüber sehr erstaunt und verwundert, aber Hauke antwortete ihm: „Ich habe früher auf dem Bau gearbeitet. Kannst Du Dir vorstellen, wie die Toiletten dort aussahen?“ Thomas schwieg.
Noch war der Weg nach Hamburg enorm weit und so ging es weiter, Kilometer für Kilometer. Am späten Nachmittag hat sich Susanne dann eine Pause gegönnt, die hatte sie sich auch verdient. Hauke und ich liefen, gingen und trabten weiter.
Wenige Kilometer vor dem nächsten Treffpunkt sahen wir dann zufällig das Wohnmobil in einiger Entfernung. Wir riefen Susanne an und sie erzählte uns, dass die beiden wieder irgendwo auf einem Campingplatz eine Dusche genommen haben. Ich war so neidisch.
Es ist wirklich eine gute Sache, auf Campingplätzen zu duschen. Am Vortag hatten Susanne, Thomas und ich uns das auch schon gegönnt und die Duschen waren brandneu, warm, hatten einen satten Wasserstrahl und machten sofort neue Menschen aus uns Dreien.
Wir sahen also das Wohnmobil in der Ferne, aber Susanne sah uns nicht, trotz meines leuchtend gelben LIVESTRONG – Laufshirts, das mich immer an den New York – Marathon 2007 erinnern wird. Und dann waren Thomas und Susanne auch schon wieder aus der Sichtweite und Hauke und ich waren ein wenig hungrig und wir freuten uns auf einen Schlag Nudeln beim nächsten Treffpunkt.
Als wir dort ankamen, empfing uns eine gut gelaunte und frisch geduschte Susanne, die sich ganz alleine um das Abendessen gekümmert hatte. Sie hat Thomas schlafen gelegt, so konnte sie richtig wirbeln und aus dem Benutzermobil wieder ein Wohnmobil machen.
Die Nudeln waren fertig, die Sauce auch. Alles noch nichts Besonderes. Aber es standen Kerzen auf dem Tisch. Und die leuchteten das Wohnmobil aus und verströmten einen Duft, der zum Bleiben einlud.
Dass Susanne eben noch alle Teppiche aus dem Wohnmobil genommen und gereinigt hat, sei nur nebenbei erwähnt. Auf jeden Fall hatte das Wohnmobil, in dem wir das Abendessen zu uns nahmen, nichts mehr mit dem Wohnmobil zu tun, das wir verlassen hatten. Susanne hatte den Touch von Luxus geschaffen, den ich schon am Morgen haben wollte.
Die kölschen Jungs von BAP hätten gesungen: „Do kanns zaubere“, so schön war es …
Lyrics BAP – Do kanns zaubere
E wieß Blatt Papier, ne Bleisteff, Jedanke bei dir setz ich
Ahm Finster un hühr, wat sich avvspillt vür der Dür, bess ich
Avvrötsch en die Zick, en der et dich für mich nit joov
un mir ming Levve vürm Daach X op einmohl vüürkütt wie en Stroof.Do kanns zaubre, wie din Mamm, die Kate läät,
– Irjendsujet muss et sinn –
Jede Andre hätt jesaat: ‚Et ess zo spät,
dä Typ ess fäädisch, nä dä typ,
Dä krisste wirklich nit mieh hin.‘Mem Rögge zur Wand, spaßend un jede Nacht voll woor ich,
Ming bessje Verstand hassend, total vun der Roll wor ich.
T’schlemmste woor, als mir, wie do mich endlich registriert,
Entsetzlich klarwood, dat et jetz oder nie met uns zwei passiert.Mensch woor ich nervös, als ich dir alles jesaat – hektisch
Un trotzdämm erlös, weil do mich nit treck ussjelach un dich
Für mich intressiert häss, für all dä Stuss, dä uss mir kohm
Für all dä Laber, dä’sch jebraat hann, weil die Chance zo
plötzlich kohm.Do kanns zaubre …
E wieß Blatt Papier, ne Bleisteff, Jedanke bei die setz ich
Ahm Finster un hühr en mich, krich kaum jet notiert, weil ich
Immer noch nit raffe, dat mir uns tatsächlich hann,
Un mir deshalb halt wießmache,
Dat do wirklich zaubre kanns …
Aber trotz des schönen Heims ging es für Hauke und mich weiter. Die Nacht kam und dieses Mal wollte ich unbedingt den Sonnenaufgang erleben. Wegen der nicht mehr arbeitenden Fähren mussten mal wieder die Straße nehmen und wir hatten vor, das 25 Kilometer lang zu tun. Ich hatte meine Laufjacke aus der „Brooks Nightlife Kollektion“ an, damit wir besser gesehen werden. Außerdem trugen wir unsere Stirnlampen, wobei eine davon hinten sogar noch ein rotes Licht hatte.
Alles unnötig, wir waren alleine auf den Straßen. Im Osten war in dieser Sonntag Nacht einfach nichts los.
Wir kamen aber nur rund 15 Kilometer weit, als Hauke Schmerzen in den Beinen bekam. Erst setzten wir uns an den Straßenrand, dann gingen wir weiter und dann riefen wir Thomas und Susanne an, dass sie uns abholen sollten.
Und wir gingen langsam weiter.
Es dauert lange, bis sich ein Wohnmobil unter Thomas in Bewegung setzt. Thomas, der Fan jedes Navigationssystems, fragte mich als erstes nach der Adresse, wo wir stehen würden. Zu diesem Zeitpunkt waren wir irgendwo im Niemandsland zwischen zwei Ortschaften, aber an einer Bundesstraße. Der Strauch, neben dem ich stand, sagte auch nichts, als ich ihn nach der genauen Adresse fragte. Aber irgendwann fuhr das Auto dann und rettete uns. Und wir gingen zu Bett.
Hauke musste sich erholen, die Beine mussten wieder lockerer werden. Für ihn war die Nachtruhe wichtig und hilfreich, für mich war sie der Abschluss der Elbe-Tour.
Am nächsten Morgen …
… Fortsetzung folgt.