Die Nacht der Entscheidung in Lilienthal …

Vor dem Marathon des Sables, dachte ich Mitte der Woche, sollte ich wenigstens ein Mal noch eine der “langen Kanten” laufen. Im Februar und März allerdings gibt es nicht allzu viele Alternativen. Da gibt es am 7. März den 6-Stunden-Lauf von Stein/NL, aber das ist eher zu wenig, vielleicht 60 km, vielleicht ein wenig mehr. Und es gibt den schönen DURAVIT-Erlebnislauf am 19. März, ein wunderschöner Landschaftslauf über immerhin 65 Kilometer durch den prächtigen Schwarzwald, gespickt mit einigen Höhenmetern.
Im Vorjahr habe ich diesen Lauf genießen dürfen, aber ob es dieses Jahr klappen wird, weiß ich nicht.
Und da gibt es am 20. März den KIENBAUM 100 Lauf in Berlin, allerdings bin ich an dem Wochenende in Rom und eine Woche später gibt es die 100 Kilometer von Kelheim, aber das halte ich für zeitlich zu knapp vor dem MdS.

Da kam mir der 100 Kilometer bzw. 100 Meilen Lauf  “X-BIONIC®” von Carsten A. Mattejiet in Lilienthal bei Bremen gerade recht. Ein Lauf, der in der Vollmond-Nacht vom Freitag, 26. Februar 2010 auf den Samstag, 27. Februar 2010 stattfinden sollte. Start war um 20 Uhr, ein Zeitlimit für die 100 Kilometer konnte ich in der Ausschreibung nicht finden, das Zeitlimit für die 100 Meilen sind 30 Stunden, also alles recht gemächlich, fand ich.
Überhaupt wirkte die Veranstaltung für mich schon wegen des exotischen Namens relativ professionell und so startete ich gegen 14 Uhr, um mich durch die vielen Freitags-Staus auf der A1 zu kämpfen. So früh loszufahren war eine wirklich gute Entscheidung, eine bessere als die, von der A1 über Recklinghausen auf die A43 Richtung Münster auszuweichen, um dann bei Münster-Süd wieder auf die A1 aufzufahren. Wenn man “vom Regen in die Traufe” kommen kann, dann habe ich das gestern erlebt.

Aber ich war Punkt 19 Uhr in Lilienthal, also eine Stunde vor dem Start, eine perfekte Punktlandung, fand ich. Vor dem Reihenhaus der Mattejiets stand ein offenes schwarzes 3×3 Meter Zelt, eindeutig der Startpunkt des Laufs. Die Grundbedingung des Laufs kannte ich schon von der Internet-Ausschreibung her, es war ein „Pendel-Lauf“, die Strecke hatte 8,1 Kilometer bis zum Wendepunkt und dann ging es ebenso weit zurück, zusammen also 16,2 Kilometer, nach 6 mal hin- und 6 mal herlaufen hast Du also 97,2 Kilometer auf dem „Tacho“, also musst Du noch eine kleine Ausgleichsrunde laufen, um die 100 „voll zu machen“. Das wollte Carsten uns dann noch sagen und zeigen, aber er hat es dann vergessen …

Schon beim Ankommen hatte ich viele Gründe, mich zu wundern. Meine Frage nach einem Toilettchen wurde mit dem Hinweis auf die Nutzung einer Ecke des Sportfeldes beantwortet, das schöne Reihenhaus hatte wohl keine Gästetoilette. Als Läufer und als Mann bin ich es ja gewöhnt, die Hecken dieser Welt zum Blühen zu bringen und in Laufkleidung habe ich auch keine Probleme damit. Aber in den zivilen Klamotten, die ich noch anhatte, schämte ich mich schon ein wenig, als eine alte Dame mit zwei kleinen Hunden vorbeikam und kopfschüttelnd vorüberging.
Danach frage ich nach einem Platz zum Umziehen. Carsten deutete mit norddeutscher Gelassenheit auf das 3×3 Meter Zelt und sagte ein knappes: „Da!“
Nun muss ich auch die Hosen wechseln und ich trage beim Laufen niemals eine Unterhose darunter, deshalb entschied ich mich für die Wechselstation „Auto“. In meinem Wagen kümmerte ich mich auch noch um meine Zehennägel, um das Einfetten der problemhaften Hautpartien und um das Abkleben der Brustwarzen. Es war eng im Auto, aber es ging.

Die wenigen Läufer, die da waren, wurden nicht miteinander bekannt gemacht, die Stimmung war bremerisch hanseatisch unterkühlt, dem Wetter entsprechend, fand ich. Und wenn Du ins Teufelsmoor rauslaufen sollst, dann solltest Du auch keine Sonne im Herzen tragen, sondern mit gedämpfter Stimmung Deine Meilen abspulen. Im Norden ist halt vieles anders, dachte ich mir. Köln, sagte ich zu mir, ist zwar die schönste Stadt der Welt, aber eben nicht das Vorbild für andere Städte. Wie schade …

Richtig überrascht aber war ich, als uns gesagt wurde, dass es nur einen einzigen Helfer gab. Der saß am Ende der Strecken, am Wendepunkt, die Wende am Start blieb unbesetzt, die Folge wäre gewesen, dass überhaupt „kein Schnack“ möglich gewesen wäre, keine Abwechslung nach jeweils ca. einer Stunde Lauferei. An Musik wollte ich ja gar nicht denken, diese Hoffnung wurde mir ja schon sehr früh genommen.
Du solltest an beiden Wendepunkten aber immer Deine Ankunftszeiten an den einzelnen Wenden auf ein Zettelchen eintragen. Wehe dem, der ohne Uhr unterwegs war, denn der Veranstalter konnte oder wollte keine Uhr neben das Zettelchen stellen. Aber das waren alles Randprobleme einer Frage, die sich mir aufdrängte, seitdem ich Lilienthal erreicht hatte:

„Was will ich hier? Wo bin ich da hingeraten?“

Ein Streckenbriefing gab es nicht, auch bekamen wir keinen Steckenplan. Zwar war mir die Strecke noch aus dem Internet einigermaßen präsent, aber „in realitas“ ist dann doch alles ganz anders, so anders, dass ich mich schon beim Zurücklaufen verlaufen hatte. Aber dazu später. Dafür aber gab es ein Lied, ein Hexenlied, zelebriert von Carstens Tochter, ein kleines Highlight an einem traurigen Abend, fand ich. Und es gab einen Start im Marathontempo. Mindestens. Und alle rannten wie blöd hinter Carsten her, wahrscheinlich, weil alle genau wie ich Sorge hatten, den kaum gekennzeichneten Weg nicht zu finden. Sechs Minuten acht Sekunden für den ersten Kilometer, 5 Minuten 45 Sekunden für den zweiten Kilometer und 5 Minuten 25 Sekunden für den dritten Kilometer….

Ich hatte schon vor dem Start überlegt, gar nicht erst dieses Abenteuer anzugehen und ich zermarterte das bißchen Gehirn, das ich habe, was ich tun sollte, aber ich entschied mich, zumindest zu schauen, wie denn die Strecke aussieht, zumindest das bißchen der Strecke, das man im Dunklen erkennen kann. Aber das, was ich erkennen konnte, war nicht schön. Und es roch nicht gut, mal roch es nach Pferden, mal nach Moor, immer roch es aber irgendwie nicht nach Köln. Die Strecke wiederum war komplett geteert, die entsprechende Straße wiederum war von der Kälte und dem Schnee der vergangenen Wochen her noch in einem erbärmlichen und renovierungsbedürftigen Zustand, es gab sogar ein vierhundert Meter langes Teilstück, wo die Teerschicht abgetragen war, der holprige Untergrund zu sehen war und wahrscheinlich schon bald eine neue Teerdecke darauf gegossen wird. Bald, aber eben noch nicht jetzt.
Und so liefen wir auf Asphalt zwischen Wasserpfützen und Schlaglochern hindurch und ich – ich litt.

Das kurze Ausgleichsstück zum Ende, das Carsten uns noch zeigen wollte, hat er vergessen zu erwähnen, als wir daran vorbei gelaufen sind, andererseits wären mir Streckenmarkierungen auch wichtiger gewesen. Dann hätte ich kontrolliert mit einer 6 Minuten 30 Sekunden Zeit pro Kilometer starten und diese Pace halten können, so aber musste ich hinter Carsten herlaufen, viel zu schnell für so einen langen Lauf.

Und ich dachte nach, was ich bei diesem Lauf will und was für mich an diesem Abend richtig ist. Ich überlegte sogar noch, ein Zimmerchen zu mieten und am nächsten Tag den Marathon zu laufen, der am Samstag vormittag ausgeschrieben war. Oder einfach langsam zu laufen, mich irgendwann ins Auto zu setzen und das mitgebrachte Federbett zu genießen, um dann entspannt am nächsten Tag weiter zu laufen, denn Liegemöglichkeiten wurden von Carsten nicht angeboten, nicht in dem schönen Reihenhaus und auch nicht in dem 3×3 Meter Zelt davor.
Wenn ich die Übernachtungslösung gewählt hätte, dann wäre der Samstag weg gewesen und eine gewertete Laufzeit von vielleicht 18 Stunden für einen 100km-Lauf motiviert mich auch nicht wirklich.
Nein, zumindest sollte ich unter der 7er Marke von 11 Stunden und 40 Minuten bleiben. Das ist die 100km – Durchgangszeit bei der 24-h DLV Challenge in Delmenhorst aus dem Vorjahr gewesen, die normalen 100er-Läufe habe ich bisher in 11 Stunden 19 Minuten, 10 Stunden 43 Minuten und 10 Stunden 51 Minuten hinter mich gebracht und diese Zeiten will ich nicht signifikant verschlechtern.

„Was will ich hier? Wo bin ich da hingeraten?“

Und ich überlegte, was es mir bringt, 16,2km, 32,4km oder 48,6km zu laufen. Nichts. Keine Wertung, kein Finish, dafür aber ein Ende des Laufs gegen 22 Uhr, Mitternacht oder sogar zwei Uhr nachts. Und dann geht es noch vier Stunden Richtung Heimat! Wofür das alles?
Ich dachte an die Aussage von Carsten, dass seine Kinder einen ganz leichten Schlaf hätten und wir deshalb sehr ruhig sein sollten am Wendepunkt „Home“ und ich war richtig froh, dass ich Carsten nicht meine Wertsachen zum Einschließen gegeben hatte, sonst hätte ich sie wohl nicht vor dem nächsten Morgen zurück erhalten und hätte entsprechend laufen müssen.
Und ich überlegte, dass ich alles andere wie Gastfreundschaft erlebt hatte, eher Gleichgültigkeit den Läufern gegenüber, außer natürlich dem „Gerebelten“ gegenüber, den 30 EUR Startgeld, die allerdings nicht dafür ausgereicht hatten, genügend Becher zu besorgen, also sollten wir unsere Pappbecher nach Möglichkeit öfters benutzen und irgendwo abzustellen. Die Idee, den Läufern persönliche Becher auszugeben und somit auf Pappbecher zu verzichten, wie es beispielsweise beim UTMB gemacht wurde oder, ganz legendär mit faltbaren Bechern, die ich bis dahin noch nie gesehen hatte, beim KiLL50.

Es war dann bei Kilometer vier, als ich beschloss, mich erst unauffällig nach hinten fallen zu lassen, um dann die Stirnlampe auszumachen, mich weiter nach hinten abzusetzen und klammheimlich und ohne Reue den alleinigen Rückweg anzutreten, um dann auf den Zettel bei der Heim-Wedemarke zu schreiben: „SORRY, ABER DAS IST WIRKLICH NICHT MEIN DING HIER!“

Ich dachte an die beiden Ameisen aus dem Gedicht von Joachim Ringelnatz und lief insgesamt rund 8 der geplanten 100 Kilometer.
Auf den kleinen Rest der Reise verzichtete ich, genauso weise.

Es war die Nacht der Entscheidung in Lilienthal, nicht in Altona auf der Chaussee, aber ich war glücklich, als ich noch vor 21 Uhr wieder auf der Autobahn war, um kurz nach Mitternacht wieder zu Hause zu sein.

Ich weiß nicht, was die beiden Ameisen am nächsten Tag nach ihrem Lauf getan haben, ich habe mich auf das konzentriert, was ich noch mehr liebe als das Laufen: auf meine Familie.

Das einzige, was mir noch bleibt, ist DANKE zu sagen. DANKE an die beiden Ameisen, die mir mit ihrem Beispiel Vorbild waren …