Mein Schluchtgedankenpechlehrerbericht

Es ist Samstag, 14:09 Uhr in dem malerischen an die französischen Berge gebauten Örtchens Moustiers Sainte Marie. Die Sonne scheint auf den belebten Platz vor der Kirche und Hunderte von Menschen sitzen in den Cafés und Restaurants und genießen das Essen, den französischen Wein oder sie sehen sich das Spektakel an, das sich da vor ihren Augen abspielt.
Gleich am Eingang auf diesen Platz laufen Dutzende von Ultraläufern ein, weil dort die vierte Verpflegungsstelle des 100 km UltraTrails des Canyon du Verdon aufgebaut ist. Zudem gibt es eine Massagestation und einen Läufer, dem gerade Erste Hilfe zuteil wurde, für den ein Krankenwagen kam.

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Ich war einer der Menschen, der zu den Zuschauern gehörte. Ich genoß einen trockenen, fruchtigen Weißwein und war glücklich, Gast zu sein einer finnischen Dame und ihres deutschen Ehemanns, die beide seit seiner Pensionierung irgendwo zwischen der aus dem Film „Das Parfum“ berühmten Stadt Grasse und Cannes wohnen. Aber wie kam ich denn zu dieser Einladung?
Ich fragte mich das immer wieder, während ich mit dem Gastgeber ein ausgesprochen interessantes Gespräch führte. Er, der Deutsche, der eine Finnin geheiratet hat und nun in Südfrankreich lebt, der vier Kinder hat, die alle perfekt Französisch sprechen, erzählte mir, dass er 38 Jahre lang europäischer Verkaufsdirektor in einem Unternehmen war, das Weltmarktführer bei Sprühdüsen ist, Sprühdüsen, wie sie für Haarspraydosen oder Deodorantdosen gebraucht werden. Ein richtig multikultureller Europäer, gebildet, weltoffen und zudem ein begeisterter Golfer.

„Wir gehen dabei so um die 13 Kilometer,“ sagte er zu mir, „aber das ist ja nicht nennenswert für Sie, oder?“
„Doch, doch,“ antwortete ich, „ich finde es schon sehr gut, dass Sie von Abschlag zu Abschlag gehen und nicht die Unsitte der Amerikaner kopieren, diese Strecken mit dem Elektroauto zurück zu legen.“ Der deutsche Pensionär hatte so viele Fragen an mich. Warum ich mir so einen Lauf antun würde, was mich antreiben würde und wie ich zum extremen Laufen gekommen sei. Und ihn interessierte, was ich beruflich mache, wie ich Familie, Beruf und das Ultralaufen unter einen Hut bekomme. Und so kamen wir von Thema zu Thema und immer wieder fragte ich mich, wie ich denn zu dieser Einladung kam. Ich rekapitulierte im Geiste den ganzen Tag.

Begonnen hat er um 3:40 Uhr, als mein Wecker mich daran erinnerte, dass für mich die Nacht vorbei war. Um 4 Uhr traf ich mich vor dem Hotel mit meinem Laufpartner Hans-Peter Gieraths und mit den Läufern Norbert und und Markus, die ich am Vorabend beim Abend essen kennen gelernt hatte. Beide sind gut mit Thomas Hildebrand-Effelberg bekannt und mit den schönsten Läuferschwestern in der kleinen Ultralaufwelt, mit den „Geschwistern Fürchterlich“. Natürlich hatten wir vieles zu besprechen an diesem Abend vor dem Lauf.

Leider musste der Streckverlauf des UltraTrails des Canyon du Verdon wegen eines auf der Strecken liegenden Riesensteins geändert werden. Wir gingen also nicht wie geplant nach etwa 15 Kilometern in die Schlucht, sondern der Abstieg sollte von der anderen Canyonseite erst gegen Ende des Laufs stattfinden. Das hat mich irritiert und enttäuscht, waren doch die Bilder aus dem Canyon das Hauptmotiv für mich, bei diesem Lauf dabei zu sein.

Als wir um 5 Uhr im Dunklen starteten, merkte ich als erstes, dass ich die Stöcke im Hotel liegen lassen hatte. Das hat den Auf- und später auch den Abstieg auf und von dem etwa 1.600 Meter hohen ersten Berg enorm erschwert. Oben auf dem Berg, fast exakt bei der Marke 7,5 Kilometer, wurde mir dann ein Stein zum Verhängnis, über den ich stolperte. Ich versuchte, mein Gleichgewicht wieder zu bekommen, aber das schaffte ich nicht mehr. Als ich merkte, dass ich stürzen werde, dachte ich nur noch daran, mich einigermaßen kontrolliert über die rechte Schulter abzurollen.

Ich hatte glücklicherweise die Armlinge an und so ist nichts Schlimmes passiert, aber die Druckstellen schmerzen auch heute noch und haben eine gelbliche und bläuliche Farbe angenommen, am rechten Oberschenkel habe ich heute sogar einen entsprechend gefärbten unschönen Höcker auf dem Muskel. Aber ich merkte, dass ich dennoch weiter laufen konnte und so versuchte ich, nicht mehr an den Sturz zu denken, aber ich lief etwas vorsichtiger und fortan auch etwas langsamer.

Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nichts von der Streckenänderung und bin noch davon ausgegangen, dass wir an unserem „Hotel Grand Canyon“ vorbei gehen, um dort in die Schlucht abzusteigen. Ich wusste, dass meine Frau Gabi gerne diesen Teil der Strecke mitgelaufen wäre und ich hatte ihr geraten, sich einfach den letzten Läufern anzuschließen. Dazu aber konnte es wegen der Streckenänderung nicht kommen, das war wirklich schade. Ich dachte mir, dass Gabi deshalb traurig war. Das irritierte und verunsicherte mich weiter.
Unser Hotel lag etwa fünf Kilometer hinter dem ersten Versorgungspunkt und der war auch gleichzeitig der zweite Versorgungspunkt, ein Umstand, der den ambitionierten und guten Trail-Läufer Volker Schillings aus Trier so verwirrt hat, dass er eine Schleife gleich doppelt gelaufen ist. Zur Belohnung für mich lief er von der zweiten Station bis zur dritten Station mit mir.


Ab der dritten Station aber lief ich wieder alleine und bei km 32 ging es nach einem steilen Abstieg über ein Kieselfeld über eine Brücke, die einen grandiosen Einblick in die Schlucht bot. Was mich am meisten faszinierte, war die Farbe des Wassers. Das Wasser hatte ein helles blaugrün, ähnlich wie Gletscherwasser, unnatürlich und magisch anziehend, ein Traum, von dem ich nie gedacht hätte, dass es so etwas Schönes in Zentraleuropa gibt.
Was dann aber kam, das hatte es wirklich in sich. Weil die Strecke hier irgendwie zusammengeschustert wurde, waren es manchmal gar keine Pfade mehr, auf denen wir liefen. Eine der Passagen, die mich psychisch vollkommen aus der Spur brachten, war der Überstieg über einen großen, vielleicht einen guten Meter hohen Stein. Gleichzeitig aber war nach oben kaum Platz. Einigermaßen groß gewachsene Läufer wie ich, die mit einem durchschnittlichen Rucksack bestückt waren, hatten da mehr als nur Probleme. Ich fand es so schlimm, dass sich einige Gedanken in meinen Kopf schlichen, die in mir Vorstellungen weckten, die nicht gut waren.

Da waren zum Beispiel die Gedanken an die voraussichtliche Zielzeit. Vor dem Lauf dachte ich, gegen Sonntag Mittag einzulaufen. Nun war ich aber auf einem Kurs von vielleicht 23 bis 25 Stunden und es drohte mir ein Zieleinlauf zwischen vier Uhr und sechs Uhr am Morgen. Gabi hatte ein Hotelzimmer, das bald eine Autostunde entfernt war und ich hatte Angst zu frieren. Andererseits dachte ich auch daran, jetzt alles betont langsam anzugehen, ausgiebige Pausen an den Versorgungsstationen zu machen, um bewusst später, also wenn die Morgensonne wieder scheint, anzukommen. Ich überlegte, was ich tun sollte und ich war zunehmend mehr irritiert.

Und dann kam dieses Dörfchen: Moustiers Sainte Marie.
Es war so schön, dass ich dachte: diesen Eindruck muss ich mit meiner Gabi teilen! Der Weg ging es eine kleine Gasse hoch und die ganze Gasse roch nach Essen. Es duftete nach Crèpes, nach Torten, nach Wein. Dann ging es nach rechts auf den großen Platz vor der Kirche und da war dann die nächste Versorgungsstation.
Das erste, was ich tun wollte, war, meine Gabi anzurufen, um zu erzählen, was ich bisher erlebt hatte, aber auch, um zu diskutieren, welche Stategie ich nun anwenden solle.

Und dann kamen die Fragen. Der pensionierte Deutsche, der mich unvermittelt ansprach, war interessiert an dem, was er da sah und ich setzte mich fast automatisch zu ihm und zu seiner finnischen Frau. „Darf ich Sie zu einem Getränk einladen?“ fragte er mich, „wollen Sie vielleicht ein Bier?“ „Bier trinke ich nicht,“ antwortete ich, „aber wenn Sie mich zu einem Glas Wein einladen würden, würde ich nicht ablehnen.“ Er bestellte dann eine 0,375 Liter große „halbe“ Flasche eines trockenen, aber sehr fruchtigen französischen Luxusweins. So also kam ich zu der Einladung, so kam es zum Ende meines Trail-Runs.


Danach habe ich mich noch schön massieren lassen und ich genoss die Mittagssonne. Als dann Markus und Norbert aus Remscheid und Wuppertal an der Versorgungsstation ankamen, da ging es mir so gut, dass ich mich gefragt habe, ob ich hier eine falsche Entscheidung getroffen habe. Ich dachte, ich hätte dann einfach mit den beiden weiterlaufen sollen. Aber dann kam Gabi, um mich abzuholen, wir gingen noch eine heiße Schokolade trinken.

Was dann am nächsten Tag passierte und warum sich die Entscheidung doch gelohnt hat, erzähle ich dann beim nächsten Mal ..