Vor vielen Jahren in einem Seminar der Dale Carnegie Gesellschaft hörte ich diese Geschichte zum ersten Mal:
Ein Wanderer ging seinen Weg entlang, seinen Esel mit Satteltaschen auf jeder Seite an der Hand führend. Es war schon später Abend, der Wanderer war müde und traurig. Da stand plötzlich ein merkwürdig gekleideter bärtiger Mann neben dem Weg.
Der Wanderer war froh, endlich wieder einen Menschen zu Gesicht bekommen zu haben, hielt an und unterhielt sich mit dem Mann am Wegesrand. Und nach einem längeren Gespräch wollte der Wanderer sich verabschieden und weiter ziehen, um noch eine Bleibe für die Nacht zu finden. Er haderte ein wenig mit seinem Schicksal und er zeigte, dass er deprimiert war.
Der altem Mann am Wegesrand aber sagte: „Sei nicht betrübt, alles wird gut. Du sollst ein Geschenk von mir haben. Bücke Dich und sammle so viele Steine hier vom Boden auf wie Du tragen und in Deine Satteltaschen packen kannst. Dann verspreche ich Dir, dass Du morgen zugleich glücklich und auch traurig sein wirst!“
Der Wanderer war etwas in Eile und wollte nicht allzu viel Zeit mit dem Aufsammeln von Steinen vergeuden, immerhin hatte er ja noch keine Bleibe für die Nacht. Er wollte aber auch das Geschenk des Bärtigen nicht ausschlagen und so entschied er sich, einen Kompromiss einzugehen.
Er nahm einige Steine, packte sie in die Satteltaschen, aber er bemühte sich nicht, so viel Zeit aufzuwenden, bis diese randvoll wären. Dann dankte er dem Mann und zog weiter.
Er fand keine Bleibe mehr für die Nacht, schlief im Freien unter einem sternenklarem Nachthimmel und als er am nächsten Morgen aufwachte, hatte er die Steine in den Satteltaschen des Esels schon fast vergessen. Dann aber erinnerte er sich daran, wurde wieder neugierig und griff in die Satteltaschen, um sich diese Steine mal genauer anzusehen. Und er stellte fest, dass sich die Steine über Nacht in kostbare Edelsteine verwandelt hatten.
Und er war glücklich über diesen Schatz.
Gleichzeitig war er aber auch traurig, nicht mehr von den Steinen eingepackt zu haben.
Trail laufen ist ähnlich wie das Sammeln von Steinen am Wegesrand. Jessica Junker aus Koblenz ist ein gutes Beispiel dafür.
Sie sprach mich während meiner roh-veganen Phase an, weil sie selbst erst seit kurzem auf vegane Ernährung umgestellt hatte und wir hielten eifrig Kontakt zueinander. Sie erzählte mir von ihren Läufen bis hin zum Marathon. Und diese Läufe machte sie durchweg sehr ordentlich, schnell und ambitioniert. Da war beispielsweise ein Marathon dabei, den sie in rund 3:45 h bewältigte, aber ein Marathon, der zudem noch 800 Höhenmeter im Aufstieg bot.
Nicht schlecht, dachte ich und ich dachte an die Anstrengung, der ich ausgesetzt wäre, wenn ich diese Zeiten wieder einmal laufen müsste.
Ich lud sie dann ein, beim RheinBurgenWeg-Lauf mit mir zu starten. Es ist ja immer so, dass man, wenn es nicht mehr geht, aussteigen und den Zug am Rhein entlang nach Hause nehmen kann. Weil sie aber an diesem Wochenende etwas Anderes vorhat, vertagten wir unseren kleinen gemeinsamen Lauf auf „irgendwann“.
Dann planten Andreas Haverkamp und ich, uns für den TransGranCanaria-Lauf vorzubereiten. Nachdem wir schon im Herbst gemeinsam den gesamten Hermannsweg von Rheine bis Horn – Bad Meinberg gegangen waren, wobei ich ihn ab Bielefeld habe alleine ziehen lassen, sollte es ein Lauf bei mir in der Nähe sein. Lang sollte der Weg sein und reichlich Höhenmeter sollte der Weg bieten. Was bietet sich dann besser an als der Rheinsteig zwischen Koblenz und Bonn?
Meine Gabi bot sich an, den Support für uns zu machen, es ist ja nicht so schrecklich weit von uns weg, wenn da nicht dieser Fluss zwischen unserem Örtchen und dem Rheinsteig wäre. Und über diesen Fluss gibt es zwischen Bonn und Neuwied keine Brücke. Zwar gibt es Fähren, aber die fahren nicht in der Nacht, sind nicht wirklich planbar und zudem riecht es darauf immer deutlich nach Diesel und Motorenöl.
Bis zum zweiten Weltkrieg gab es noch eine Brücke. Die „Brücke von Remagen“ verband die beiden Rheinufer, sie wurde aber nach der Zerstörung zwar verfilmt, aber nie wieder aufgebaut und ist auch heute noch als Mahnmal gegen den Krieg zu bewundern.
Ich erzählte Jessica von dem Vorhaben und lud sie ein, uns zu begleiten. Auch auf der anderen Rheinseite, liebevoll auch die „schäl sick“, die „schlechte Seite“ genannt, kann man ja jederzeit aussteigen und mit dem Zug zurück nach Koblenz fahren. Jessica hatte etwas Sorge vor der Strecke, immerhin war ihr Limit bislang 42,195 km gewesen und so wollte sie 50 km „plus X“ mit uns laufen.
Sie wiederum brachte eine Freundin mit, Antje Überholz, die wiederum nur 15 km mitlaufen wollte und Thomas, einen Freund, mitbrachte. Schlussendlich schlug auch Frank Nicklisch vor, uns ein Stück zu begleiten. Für ihn als WiBoLT-Läufer war die Herausforderung natürlich eher gering, für Jessica aber war es schon echtes Neuland, das da betreten werden sollte.
Jessica und Frank blieben am Ende deutlich über 50 km bei uns und Jessica verhält sich seither wie der Wanderer, der am Abend die Steine aufgehoben und mitgenommen hatte. Sie ist glücklich, diese Strecke bewältigt zu haben, gleichzeitig ist sie aber auch traurig, dass es nicht noch mehr Kilometerchen waren, die sie da mitgelaufen ist.
Und weil Trail laufen eben auch süchtig macht, wird sie am 12. Februar ganz alleine eine weitere Etappe auf dem Rheinsteig laufen und dann, bei nächster Gelegenheit, eine weitere. Und abschließen wird sie mit dem Rheinsteig Ende November, wenn sie ganz offiziell den „Kleinen KoBoLT“ laufen wird, 104 km auf dem Rheinsteig.
Ich erzähle diese Geschichte so gerne, weil sie mich auch an mich selbst erinnert, an meine ersten Versuche im Ultramarathon-Bereich und auch daran, wie die Sucht bei mir entstanden ist. Und auch heute, wo ich 60 km Trail ohne Vorbereitung als Trainingslauf verstehe, weiß ich noch genau, dass am Anfang ein Halbmarathon mein sportliches Ziel war, wie weh der erste Marathon 2004 in Frankfurt getan hat und welche Schmerzen ich bei meinem ersten Ultra in Ratingen-Breitscheid, beim leider nicht mehr durchgeführten „Ratinger Rundlauf“, auszuhalten hatte.
Wir starteten also zu sechst bei der Koblenzer Festung Ehrenbreitstein und folgten stets dem Rheinsteig. Antje und Thomas verließen uns genau dort, wo die Läufer des KoBoLT ihr erstes „Beweisfoto“ machen müssen, wohl auch, um die Neigung, nicht den schönsten, sondern den schnellsten Weg nach Sayn zu nehmen, einzudämmen.
Zu viert ging es dann weiter bis zur ersten Verpflegung, wie beim KoBoLT auch in Rengsdorf gelegen. Gabi fuhr uns dabei ein kleines Stückchen entgegen, was aber einen Bewohner von dort veranlasst hat, seine Gedanken über gesperrte Wege und darüber preis zu geben, was passieren würde, wenn jeder diese zweihundert Meter auf geteertem Grund, aber mit ganz neuen Halteverbotsschildern geschmückt, befahren und beparken würde.
Um den Herrn glücklich zu machen und auch, um jedem Streit aus dem Wege zu gehen, ist Gabi dann doch so weit wieder zurück gefahren, bis der Herr zufrieden genickt hatte. Ich begleitete das Auto mit nacktem Oberkörper, da ich mein X-BIONIC Shirt schon ausgezogen hatte, um es gegen ein trockenes und frisches einzutauschen. Ich habe nicht übermäßig gefroren, zwei oder drei Grad fühlen sich in solch einer Situation durchaus annehmbar an, annehmbarer jedenfalls als die Vorstellung, das wärmende Blinken von blauen Lichtern auf Polizeiwägen, die zu rufen dieser um Gerechtigkeit besorgte Mitbürger gedroht hatte, zu erleben.
Der „eineinhalbte“ VP folgte dann schon wenige Kilometer später und der kam vollkommen ungeplant und überraschend. Eine Wandergruppe, hauptsächlich Rentnerinnen und Rentner, hatte auf einem Teilstück des Rheinsteigs eine ähnliche Idee und ließ sich auf demselben aus einem Auto mit Getränken versorgen. Und es war genug da für alle, auch für uns. Wir erzählten von der Strecke, die wir schon hinter uns hatten und von der langen Strecke, die wir noch vor uns hatten.
Die große Auswahl an sicherlich bekömmlichen Schnäpsen haben wir ausgelassen, aber Wasser und Cola machten diese zusätzliche Pause neben der gefühlten Bewunderung durch drei Dutzend Wanderer zum echten kleinen Highlight.
Aber irgendwann dankten wir, verabschiedeten uns und gingen unseren Weg weiter.
Nach dem zweiten VP, an dem sich Jessica und Frank verabschiedeten, waren Andreas und ich dann alleine. Und wir beschlossen, auf den dritten VP in der tiefen Nacht zu verzichten, dafür aber in Linz noch etwas zu essen. Frank schätzte, dass wir gegen ein Uhr in Linz sein würden und bis zwei Uhr, da war er sich sicher, war in Linz am Samstagabend noch etwas los.
Frank hatte dabei die Linzer Gastronomen richtig eingeschätzt, aber unsere Geschwindigkeit hat er wohl deutlich falsch eingeschätzt. Wir erreichten Linz erst kurz vor drei Uhr und wir fanden eine Kneipe, in der noch die Funkenmariechen für ihren großen Auftritt im Karneval probten und eine Art Disko, in der es auch um 3 Uhr noch Flammkuchen gab.
Aber so ein Flammkuchen ist dann doch nicht die optimale Läufernahrung und wir wurden schnell wieder hungrig. Und dann, so gegen 7.00 Uhr, rief Gabi an und meldete sich ausgeschlafen zurück. Wir diskutierten einen Treffpunkt, das ausgewählte Örtchen wurde dann zwar auf den Wegweisern erwähnt, der Rheinsteig aber lief nicht durch diesen Ort.
Nur keine unnötigen Meter, dachten wir und richteten uns auf die nächste Ortschaft, auf Rheinbrohl, ein. Aber dann merkten wir, dass auch Rheinbrol nur auf Schildern stand und von Zubringern erreicht werden konnte, der Rheinsteig aber läuft 2,5 km an der Ortschaft vorbei. Also zum nächsten Ort?
Aber der Hunger war groß, die Nacht zu Ende und so beschlossen wir, diese 2,5 km Richtung Rhein abzusteigen und dann dort so lange im Tal weiter zu laufen, bis der Rheinsteig wieder zum Rhein runter kam. Nicht aber, ohne ordentlich gefrühstückt zu haben, das war klar.
Diese Wegänderung verkürzte unsere Wegstrecke auf rund 129 Kilometer und unsere Laufuhren zählten nur 4.200 statt der geplanten 4.446 Höhenmeter. Aber wer fragt danach bei einem Trainingslauf?
Als wir dann auf dem Drachenfels auf Bonn blickten, war es schon etwas wärmer, auf dem Petersberg oben war es dann beim nächsten VP, dem „zweiten Frühstück“ scho fast angenehm warm. Dann folgten noch rund 19 Kilometer und als wir dann in Bonn ankamen stand die Januarsonne hoch am Himmel und wir waren deutlich zu warm angezogen. Entscheidend war aber, dass wir angekommen waren, deutlich später als gedacht und deutlich gestresster als geplant.
Aber dieser Stein, der Rheinsteig, hatte sich auch für uns in einen Edelstein verwandelt und wir waren glücklich, es geschafft zu haben. Gleichzeitig waren wir aber auch traurig, dass es nicht noch etwas mehr gewesen war. Andreas beschloss deshalb für sich, die 130 km voll zu machen und lief noch 700 Meter weiter Richtung Bonner Innenstadt.
Trail laufen macht eindeutig süchtig …