Vergangene Woche schrieb ich noch an dieser Stelle: „Was dann am nächsten Tag passierte und warum sich die Entscheidung doch gelohnt hat, erzähle ich dann beim nächsten Mal …“
Ich hatte nun also den Samstag Abend und den Sonntag frei. Am Samstag Abend endeten wir auf der Suche nach einem netten Restaurant in einer eher wenig repräsentativen Pizzeria, weil viele Restaurants schon auf eine „kalte Küche“ hinwiesen. Aber die Pizzen dort waren wirklich lecker und auch der Salat war annehmbar. Danach durften wir uns noch im Hotelzimmer bei der zweiten Halbzeit des Spiels England gegen USA langweilen und auch das war gut so, weil dieses Spiel, wie auch viele andere bei dieser Fußball-Weltmeisterschaft, ein vernünftiger Beitrag war zur Erlangung der notwendigen Bettschwere. Und so schlief ich schnell ein und träumte vom Besteigen der Berge, von der Schlucht, aber auch davon, wie ich mit Vorwürfen konfrontiert wurde, warum ich diesen Lauf nicht zu Ende gebracht habe. Ich träumte von dem leckeren Wein und dem zauberhaften Städtchen Moustiers Sainte Marie und dem netten Gespräch mit dem Deutschen und seiner finnischen Frau.
Das Hotel, in dem Gabi schlief und wo ich mich einfach dazuquartiert hatte, bot kein Frühstück an, also fuhren wir Richtung Ziel des Trails Canyon du Verdon. Es war noch sehr früh am Morgen, die Sonne schien in warmen Farben, optimal für Fotografen, ein Morgen, an dem sich das frühe Aufstehen besonders gelohnt hat. Wir kamen an Feldern voller Klatschmohn vorbei und das helle Rot der Blüten leuchtete dominant und kräftig.
Omnipräsent waren aber auch die berühmten Lavendelfelder der Provence, der Haute Provence, um genau zu sein. Zwar hatte ich schon einiges über die Lavendelfelder gehört, gelesen und auf Fotos gesehen, aber ich hätte mir nicht vorstellen können, dass tatäschlich fast jeder Landwirt entsprechende riesige Felder hatte. Und ich war beeindruckt von der Regelmäßigkeit der Bepflanzung, von den schier endlosen Reihen Lavendel, die sich irgendwo am Horizont vereinigten. Wenn all das noch ein paar Wochen später gewesen wäre und der Lavendel auch noch geblüht hätte, ich glaube, dann hätte mich dort niemand wieder weg gebracht, so schön war es da.
Hans-Peter Gieraths war wie erwartet schon lange im Ziel und so gingen wir zuerst zusammen zum Frühstücken. Ich bin ja wahrlich kein Freund des französischen Frühstücks. Es ist weizenbrotlastig und auch viel zu süß. Ich denke in diesen Situationen meist an die Fraßgifte des Weizens und daran, dass wir Europäer zu zwei Dritteln eine Weizenallergie haben, von der wir in der Regel jedoch nichts wissen. Auch deshalb favorisiere ich Gemüse oder Obst zum Tagesstart, aber in Gemeinschaft kann ich auch mit so einem Frühstück leben.
Als dann Hans-Peter vorschlug, noch gemeinsam in die Schlucht abzusteigen, sah ich, wie Gabi gleichzeitig begeistert und verwundert war. Begeistert, weil sie ja so gerne den Fluss in seinem tiefen Bett gesehen hätte, aber verwundert, weil Hans-Peter erst vor wenigen Stunden die 102 Kilometer des Trails Canyon du Verdon gefinished hatte und deshalb vollkommen übernächtigt war.
Mir fiel in diesem Moment nur das ein, was mein Freund Jens Vieler einmal geschrieben hat:
„Jeder, der weniger läuft als ich, ist ein Weichei! Und jeder, der mehr läuft als ich, ist verrückt!“
Ich sehe das genauso wie Jens und dachte also in dem Moment, dass es dort im Ziel von vielen „Verrückten“ gewimmelt hat, eben von denen, die diesen Trail gefinished hatten, dessen zweite Hälfte ich mir gespart hatte. Aber Hans-Peter musste in diesem Moment für Gabi und mich als „Super-Verrückter“ erscheinen. Wenn es die Casting-Show „Deutschland sucht den Super-Verrückten“ geben würde, in diesem Moment hätte ich Hans-Peter dafür vorgeschlagen.
Wir fuhren dann auf die unserem Hotel vom Freitag gegenüber liegende Canyonseite, dorthin, wo noch vor einigen Stunden ein Restaurant in eine Versorgungsstation für die Trail-Läufer umgewandelt war. Die übrig gebliebenen Nudeln in einer großen Plastikschüssel vor dem Eingang waren noch stumme Zeugen dieser Labestation.
Bevor es losging, sank jedoch Hans-Peter’s Status von „super verrückt“ auf „verrückt“ ab. Er sagte, dass er wohl ein wenig zu viel versprochen hatte, als er vorschlug, uns zu begleiten. Er würde lieber dort an dieser Station duschen und dann ein paar Stunden schlafen, während wir unsere Wanderung machten. Ein guter Vorschlag.
Der Weg nach unten war breit und nur leicht abfallend. Außer ein paar schwierigeren Passagen mit eingebauten Treppen und großen Steinen war es tatsächlich eine lange, aber harmlose Wanderung in den „Gorge“, wie die Franzosen ihre Schluchten nennen.
Wenn Du wanderst, dann ändern sich manche Dinge gegenüber dem Laufen. Du willst möglichst nicht allzu viel schwitzen und gehst daher nur am Rande der Schweißgrenze, was dann besonders schwierig wird, wenn es sowieso sehr heiß ist. Und im Canyon weht kein kühlendes Windchen. Wir brauchten also rund eineinhalb Stunden, bis wir unten am grün-blauen Fluß und an der wunderschönen Holzplanken-Brücke ankamen.
Ich amüsierte mich darüber, dass nur 12 Personen gleichzeitig die Brücke betreten duften und ergänzte das Schild in Gedanken mit dem Hinweis: „oder 10 Personen mit je 120 kg Gewicht“. Gabi meinte daraufhin, dass sich 120 Kilo – Männer nicht in die Schlucht verirren würden.
Keine zwei Minuten später wusste sie, dass sie sich geirrt hatte. Zwei passende Zeitgenossen, begleitet von einer 100 kg – Frau, wagten sich über die Brücke, die nicht nur wegen des Gewichts der drei Wanderer wankte und wackelte. Die Dame zitterte vor Angst und hielt sich krampfhaft am Hosenbund ihres vor ihr gehenden Mannes fest und wenn ich bis dahin noch nicht gewusst hätte, wie man „PANIK!“ ins Gesicht eines Menschen schreibt, dann hätte ich es wohl in diesem Moment bei dieser Dame gelernt.
Hinter der Brücke gingen wir noch ein, zwei interessante Kilometer nach rechts, aber nicht so weit, wie die Läufer in der Nacht gelaufen waren. Unsere Wasserflasche leerte sich zusehends und so beschlossen wir, umzudrehen und Hans-Peter aus dem Schlaf zu reißen und gingen, etliche Fotos machend, wieder zurück. Die ein, zwei Kilometer zurück, über die Brücke und den Berg wieder hinauf. Wir hatten noch keine 20% der Steigung hinter uns gebracht, als wir die „gewichtigen Drei“ überholten.
Runter geht es für übergewichtige Menschen deutlich leichter als bergauf. Ich bin sicher, die drei werden diesen Trip noch lange verfluchen. Und wenn die drei gewusst hätten, dass nur wenige Stunden zuvor eine Horde „Verrückter“ diese Strecke laufend bewältigt hatte und das, nachdem sie schon 65 harte Kilometer in den Beinen und vielleicht schon knapp 5.000 Höhenmeter in den Oberschenkeln hatten, dann hätten sie sich wohl bekreuzigt und hätten den Läufern nachträglich noch, auf die Knie sinkend, gehuldigt.
Auf halber Strecke hatte Gabi noch die Idee, mit den Bäumen am Weg Frieden schließen zu müssen und so haben wir einen besonders dicken Baum umarmt und tief in ihn hinein gehört. Und es hat tatsächlich funktioniert. Als ich meinen Kopf an den Baum legte, hörte ich Geräusche wie Trommeln und später hörte ich auch noch Schritte. Es war tatsächlich ein Erlebnis, das ich bei nächster Gelegenheit wiederholen sollte.
Als ich dann meinen Baum verließ, kam ein junges Paar mit Rastalocken den Weg herunter. Der junge Mann hatte eine afrikanische Trommel in der Hand und die junge Dame trug das Wasser. Noch ein paar Stunden zuvor hatten wir die beiden am Straßenrand gesehen, als sie versucht hatten, zu trampen und ich überlegt hatte, wie wir die beiden noch mitnehmen könnten. Unser kleiner Toyota Aygo, der mit uns drei und dem ganzen Gepäck gefüllt war, fand das aber gar nicht gut.
Ob ich vielleicht doch nicht in den Baum, sondern irgendwie daran vorbei gehört habe?
Aber die paar Minuten am Baum ließen mich über die Schlucht und die Besonderheiten dieses Naturschauspiels nachdenken. Ich war schon drei Mal unten am Colorado im Grand Canyon, aber mir war das Wasser dort stets zu ruhig und ich habe mich immer gefragt, wie dieser vergleichsweise ruhige Fluss diesen gewaltigen Canyon geschaffen hat. Der Fluss Verdon mit einer aufregenden Fließgeschwindigkeit lässt keinen Zweifel zu, dass er diese Schlucht selbst geschnitten hat.
Die Farbe des Wasser gleicht Gletscherflüssen im Frühjahr und die Biegungen, die großen Steine im Wasser und die Wasserschnellen lassen Dich davon träumen, diese Passage einmal mit einem Rafting-Boot und Deiner Familie voll bekennender Gelegenheits-Rafter zu bewältigen. Vielleicht, ganz vielleicht, gelingt uns das noch in diesem Sommer.
Der Baum, den ich da umarmte, stand da wohl schon ein paar Jahrhunderte lang. Seither sah er Menschen den Berg hinunter und auch wieder heraufgehen, heraufwandern oder eben seit einigen Jahren sogar heraufjoggen. Ob er Verständnis für die Hektik dieser Menschen hat? Und ich dachte an die dreitausend Jahre alten amerikanischen Sequoias, die mich vor Jahren so beeindruckt hatten, diese Bäume, die sich, wenn Sie denken könnten, immer über die Hektik der Menschen wundern müssten und das kurze Leben der Menschen wohl dieser Hektik zuschreiben würden. Dieser dicke Baum am Rande des Canyons dachte sicherlich ähnlich.
Es war etwa halb vier am Nachmittag, als Gabi und ich wieder aus der Schlucht heraus waren. Wieder oben angekommen gönnten sich Gabi, Hans-Peter und ich noch ein eiskaltes „Desperados“ und wir schauten über den Canyon Richtung dem Ziel des Trails Canyon du Verdon und ich dachte mir, dass wohl noch immer Läufer auf der Strecke sind.
Noch eineinhalb Stunden bis zum Zielschluss …