Mein längstes Rennen …

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Es war Mittwoch, 9 Uhr englische Zeit.
34 Starter standen an der Startlinie und warteten auf den Startschuss zum 250 Meilen (400 Kilometer) langen THAMES RING RACE. Ich weiß nicht, was die anderen Starter dachten, ich aber schaute mir die anderen Starter an und fühlte mich untertrainiert angesichts der optischen Zustände der Mit-Teilnehmer.
Als es dann los ging, stürmten alle, wie immer viel zu schnell, an die Themse, um sich auf die lange Reise zu machen. Ich versuchte, mich weiter hinten einzuordnen, um die erste Etappe bis zum CP1 in Hurley, also in etwa den ersten der neuneinhalb Marathons, nicht schneller als in 6 Stunden zu schaffen.

Ich erinnerte mich an das Jahr 2011. Damals war ich auch schon dort am Start, ich ging die lange Strecke viel zu schnell an, auch, um nicht hinter meinem ehemaligen englischen Laufpartner Bob Lovegrove zu liegen. Das war ein echter Amateurfehler, das Rennen nicht nach einem eigenen, auf das eigene Laufvermögen abgestellte, Plan zu laufen, sondern sich von externen Einflüssen leiten zu lassen. Das Resultat war 2011 gewesen, dass ich danach so langsam wurde, dass ich den CP3 in Yiewsley erst so spät erreichte, dass ich übermüdet war, aber nicht genug Zeit zum Cut-Off geschaffen hatte, um auszuschlafen. Dort müssen die Läufer um 9.30 Uhr am Donnerstag den CP verlassen haben und ich kam damals erst um 7.30 Uhr dort an, zu wenig Zeit zur Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme, Umstellung der Kleidung von Nacht auf Tag, zum Schlafen usw.

Nach 5 Stunden und 50 Minuten war ich dann tatsächlich am CP1. Ich lag weit hinten im Starterfeld, aber ich fühlte mich gut, aß etwas, trank viel und füllte meinen Rucksack auf. Dann ging es schnell weiter. Jeder weitere Marathon sollte in knapp 8 Stunden bewältigt werden, so mein Plan.
In Chertsey lag der CP2, bis dahin ging es immer an der Themse entlang. Da gab es teilweise wunderbare Villen und Gehöfte zu bewundern, meist mit immens großen Grundstücken und je näher wir Richtung London kamen, desto häufiger waren auch ganz moderne Bauwerke zwischen den typisch englischen Herrenhäusern zu bestaunen.
Wer deutsche Flüsse kennt, der weiß um die Begradigungen der letzten zweihundert Jahre, der denkt an einen Fahrradweg neben dem Fluss. Die Themse ist da vollkommen anders. Sie fließt in Bögen, wie sie will, meist liefen wir wirklich nur auf einem „footpath“, einem Trampelpfad, neben dem Fluss, der gelegentlich auch etwas weiter vom Fluss entfernt war. Dann galt es, Gatter zu passieren, Tore auf- und wieder zu zu machen, Leitern zu überwinden, es ist tatsächlich noch sehr natürlich dort im schönen England.
Oft führte uns der Weg aber auch einfach über Rasenstücke, Parks, Wiesen und gelegentlich aber auch über Feldwege und sogar über richtige Straßen, gelegentlich sogar mitten durch die angrenzenden Ortschaften.
Etwas ganz Besonderes war es aber, die Themse bei Eaton zu belaufen. Eaton ist ja wie manch andere Universitäten für die hervorragenden Ruderer bekannt und just an diesem Wochenende gab es eine Ruderregatta auf der Regattastrecke der Themse. Tausende von Zuschauern waren vor Ort, es gab einen VIP Bereich für die „upper 10.000“ direkt auf der Laufstrecke. Wir mussten einen Umweg über die Stadt nehmen. Anschließend kamen die öffentlichen Bereiche mit Catering-Ständen en masse, mit Engländerinnen und Engländern, die einzeln teilweise so skurril angezogen waren, dass allein dieser Anblick die Reise wert gewesen wäre. Ich brauchte einige Zeit, um zu bemerken, dass die skurrilsten Anzüge meist vielfach vertreten waren. Fast alle Zuschauer kamen im Outfit Ihrer Universität, Ihrer Verbindung, Ihres Clans, sehr traditionell, sehr bunt, sehr britisch. Skurril, aber nicht ohne Stil und Charme.
Ich gestehe, solch eine Ansammlung von Menschen schon lange nicht mehr gesehen zu haben. Den Kontrast dazu bildeten die Ruderer, um die sich alles drehte. Ein tolles Bild für uns. Nur das Laufen fiel uns allen sehr schwer. Zwar war der Weg hier tatsächlich gepflastert und einigermaßen breit, aber wir mussten stets auf die unzähligen Menschen achten, die auf dem Weg standen, uns entgegen kamen oder die wir überholen wollten. Und da Besucher nie alleine sind, sind zwei gut situierte Herren fortgeschrittenen Alters, die nebeneinander gehen oder stehen, eben auch einigermaßen breit. Ich lief über Kilometer hinweg Slalom von der einen Grasseite neben dem Weg auf die andere Grasseite, um wenigstens einigermaßen schnell weiter zu kommen. Erst am Ende der Regattastrecke konnte ich wieder normal weiterlaufen. Ich war froh, aber auch ein wenig traurig, denn eigentlich sollte man sich die Gelegenheit, solch ein Event wie die anderen Zuschauer „ganz normal“ zu besuchen, nicht entgehen lassen.

Irgendwann verließen wir an einem Park die Themse und querten einen großen Park nahe eines Luxushotels, um den berühmten „Grand Union Canal“ zu erreichen. Dort waren anfangs noch Häuser zu sehen, dann folgte ein Industriegebiet, dann begann die weite Landschaft. In diesem Industriegebiet verlor ich dann auch die Orientierung und wusste nicht mehr weiter. Ich versuchte mehrere Möglichkeiten, den weiteren Weg zu finden, alle vergebens. Welchen Fehler ich machte, weiß ich auch heute noch nicht, ich verlor viel Zeit mit der Sucherei und überlegte, was zu tun sei.
Noch ein paar Minuten zuvor überholte ich einen anderen Läufer, der sich auf einer Parkbank zum Schlafen hingelegt hatte. Sollte ich zurück gehen, mich zu ihm gesellen und dann gemeinsam suchen?
Ich wusste aber nicht, ob er einen Kurzschlaf halten wollte oder vielleicht sogar eine oder zwei Stunden zu schlafen gedachte.
Ich entschied mich, über eine Schleuse zu gehen und den angrenzenden Hang hinauf zu gehen. Ich kam dort in einen riesigen und wunderschönen Park mit einem imposanten Herrenhaus. Es gab ein bewachtes Tor zur Straße und ich folgte dieser Straße einigermaßen parallel zur Themse. Nach einem Kilometer fand ich einen riesigen öffentlichen Park und wählte die Lauf- und Fahrradwege darin aus, bis ich zu einem Schild kam, das zum „Grand Union Canal“ zeigte. Alles war wieder im Lot, der Morgen begann zu grauen und da mein Plan für die erste Nacht sowieso keinen Schlaf vorsah, war ich auch sehr gut im Plan. Ich war auch überhaupt nicht müde, als ich in Yiewley ankam, dort, wo zwei Jahre zuvor für mich das Ende der langen Reise war.
Aber ich ließ mich dort ein wenig massieren, leider und unverständlicherweise war es die einzige Massagestelle des gesamten Laufs und die war auch nur privat von einer Schwedin gemanagt worden. Aber besser ein Mal als kein Mal.

Der Canal ist weitgehend Tristesse pur. Da ist der Trampelpfad rechts oder links des Kanals, da sind die Hausboote, die angelegt haben, „mooring“ nennen das die Engländer, und da ist rechts und links etwas Landschaft. Keine Häuser, keine Ortschaften, nichts, das Abwechslung für die Augen versprechen könnte. Nur manchmal kamen Schleusen, manchmal fehlten die Hausboote. Für mich, der ich großartige Blicke von den Gipfeln liebe, war das schon eine immense Herausforderung. Aber ich kannte das ja und ich war darauf eingestellt. Und ich wusste ja, dass viele der Kilometer, die ich zurück zu legen hatte, von Kilometer-Paten gekauft wurden, für einen guten Zweck, für Kinder, deren größter Traum es vielleicht war, sich mal solch eine Landschaft ansehen zu können.

In Berkhamstedt am CP4 hatte ich schon ein deutliches Zeitpolster auf die Cut-Off Zeit herausgearbeitet, sodass ich es mir leisten konnte, am CP5 in Milton Keynes planmäßig drei Stunden zu schlafen, auch wenn mich das nahe an die Cut-Off Zeit brachte.
Meine Mission in England war „finishen“, nur das zählt, dachte ich.
Dann kam der Freitag und mit dem Freitag kam auch die Hitze. Sie war vom Wetterbericht angekündigt, aber sie traf mich dennoch mit voller Wucht. Es war das heiße Wochenende, an dem Andy Murray in Wimbledon bei 40 Grad Hitze zum ersten Mal seit Menschengedenken wieder den Wimbledon-Titel wieder auf der britischen Insel halten konnte.
Bis zum CP6 in Nether Heyford ging es noch mit dem Temperaturen, aber am Nachmittag wurde ich in der Hitze langsamer und langsamer und ich musste mich richtig quälen. Zum Glück waren die Cut-Off Zeiten je Etappe nun etwas üppiger, sodass mein langsamer werden sich nicht negativ auf mein Zeitpolster auswirkte.
Es ging an einer Canal Kreuzung dann in den „Oxford Canal“. Diese seltenen Kreuzungen wollten alle mit Bedacht gelaufen sein, zu schnell hat man den falschen Wasserweg gewählt. Aus der Historie des Laufs wusste ich, dass manche Läufer solch einen Fehler erst nach 20 Meilen bemerkt hatten.
Hilfreich war aber stets, dass die Brücken nummeriert waren und ich verglich die Nummern immer mit meinem ausgedruckten Plan.
Da es keinen GPX-Track der Strecke gab und seitens der Organisatoren noch vieles so gehandhabt wurde „wie früher“, bekamen wir an jedem CP immer einen ausgedruckten und laminierten Plan der Strecke bis zum nächsten CP und wir mussten den alten Plan immer abgeben. Es war keine optimale Lösung, aber man gewöhnt sich im Laufe der fast 100 Stunden an dieses Procedere.

Wenn ich aber gehofft hatte, dass die Strecke nach dem „Grand Union Canal“ neben dem „Oxford Canal“ besser würde, dann wurde ich bitter enttäuscht. Das Gegenteil war der Fall. Dieser Trampelpfad war wesentlich seltener begangen und oft durch dornige Gewächse und Brennnesseln überwuchert. Wenn man immer darauf achtet, sich nicht allzu oft an den Dornen zu kratzen und auch sich nicht allzu oft an den Brennnesseln zu verbrennen, dann reduziert das die Laufgeschwindigkeit weiter.
Und die Läufer vor mir hatten zweifellos hier noch größere Probleme. Es waren aber nicht mehr allzu viele Läufer im Rennen, die die Strecke hätten niedertrampeln können. Stück für Stück reduzierte sich die Läuferschar von den ursprünglichen 34 auf schlussendlich 14 Läufer, die es bis nach Streatley/Goring schafften.
Außerdem war der „Oxford Canal“ wesentlich weniger befahren, es gab oft stundenlang keine bemannte Schleuse, keinen Kiosk, kein Hausboot, nichts, wo ich hätte Wasser nachfüllen konnte. Und die Temperaturen stiegen und stiegen.
Zwei Mal luden mich Hausbootbewohner auf eine Cola oder ein Wasser ein. Ich schenkte diesen Menschen fünf Minuten Zeit, eine nette Geschichte und ein gutes Gefühl und ich ging dann weiter im Bewusstsein, hier etwas wirklich Großartiges zu leisten.
In manchen Phasen fielen mir diese Gedanken aber wesentlich schwerer.
Richtig anstrengend waren auch die beiden Berge. Zwei Mal verschwand der Canal in einem Tunnel und unser Weg führte uns einige Meilen über den Berg wieder ins Tal. Ein Mal davon durfte ich zwei Anläufe dafür nehmen, weil ich mich verlaufen hatte und wieder am Ausgangspunkt ankam. Ich wurde aber davor gewarnt, dass das passieren kann. Einer hatte einmal sogar diesen Fehler nicht bemerkt und ist dann den Canal einfach wieder zurück gelaufen, im festen Glauben, auf der anderen Seite des Berges angekommen zu sein.

Den CP7 in Fenny Compton erreichte ich am frühen Abend des Freitags. Ich hatte mir ein immens großes Zeitpolster vor dem Cut-Off herausgearbeitet, lag immerhin auf Rang 12 von Anfang 20 zu diesem Zeitpunkt noch verbliebenen Läufern, aber ich wusste, dass ich so nicht weiterlaufen konnte.
Eine Entscheidung musste her. Und ich entschied mich, mich ganz ans Ende des Rankings fallen zu lassen, um meinen mittlerweile elefantös aufgedunsenen und schmerzenden Fesseln die maximale Regenerationszeit zu gönnen. Und ich entschied mich, mich mit dem letzten Platz abzufinden. „Hauptsache, das Finish klappt,“ dachte ich.
Und so hatte ich Zeit bis Samstagfrüh um 2 Uhr. Ich aß ausgiebig, Gabi cremte die Beine, Fesseln und Füße mit Hirschtalg und einer After Sun Lotion ein und ich versuchte, mich ins Schlafzelt zu bewegen. Ohne mich stützen zu lassen ging das aber nicht. Ich war total am Ende und die meisten Beobachter strichen mich schon im Geiste von der Teilnehmerliste.
Schlaf aber hat einen eigenen Zauber. Ich regenerierte, zum Glück. „Als Du zwei Minuten vor dem Cut-Off erst das Lager verlassen hast,“ sagte später eine der Ladies der Organisation zu mir, „dachten wir schon, dass Du es nicht mehr rechtzeitig schaffst!“ Aus dem CP draußen bist Du nämlich erst, wenn auch Deine Schuhe den CP verlassen haben. Und wer denkt, dass nur die schweizer Uhren genau gehen, die englischen Uhren tun es ebenfalls. Und wer den CP zu spät verlässt und sei es auch nur um eine Minute, der ist draußen.
Ich war also Letzter. Aber ich konnte wieder laufen. Es war dunkel, tiefe Nacht, es war wunderbar kühl, feucht, nicht kalt, optimal zum Laufen. Es war „meine Zeit“. Und in „meiner Zeit“ war ich auch nicht lange Letzter. Und auch nicht lange Vorletzter. Ich überholte eifrig Läufer auf Läufer, bis ich gegen 10.30 Uhr im CP8 in Lower Heyford ankam. Dort machte ich gleich zwei dumme Fehlerchen hintereinander.
Fehler 1: Anstatt nur kurz zu verweilen blieb ich bis zum Schluss des CPs und machte ein Nickerchen.
Um 14 Uhr ging es dann weiter. Die Sonne heizte die Gegend so sehr auf, dass es wirklich unerträglich war. Ich passierte schon nach wenigen Minuten Javed und wegen Fehler 2: Schnell laufen war nach zweieinhalb Stunden „Schicht am Schacht“ bei mir. Ich hatte meine Geschwindigkeit von 3.25 Meilen pro Stunde am Vormittag auf 3.5 Meilen pro Stunde erhöht und plötzlich ging nichts mehr. Der Kreislauf drohte abzusacken, mir wurde schummrig vor Augen und nur „Aunt Annie’s Teeroom“ rettete mich. Ich setzte mich in den Tearoom, trank zwei halbe Liter eiskalte Coca Cola und machte 30 Minuten lang gar nichts. Erst dann setzte ich meinen Weg langsam wieder fort. Javed hatte mich längst wieder überholt, aber ich sah ihn später wieder in Sichtweite und erreichte ihn, als er sich an einem offenen Wasserhahn erfrischte. Wir gingen ein paar Meilen zusammen und erreichten kurz vor Oxford eine Canal-Kreuzung. „Hier habe ich vor vier Jahren verloren,“ sagte Javed. „Ich lag zu dieser Zeit in Führung, aber ich nahm hier den falschen Weg.“ Ich war froh, ihn in diesem Moment neben mir zu wissen.
Aber plötzlich schaltete Javed den Turbo ein und ich war nicht mehr imstande, ihm zu folgen und kurze Zeit später, bei dem schwierigen Übergang vom „Oxford Canal“ zur Themse, war ich ganz allein. Ich wusste, dass es schwer war, den richtigen Weg zu finden. „Da gingen schon viele verloren!“ schärfte man mir ein. Es war auch auf dem Plan falsch und unverständlich beschrieben. Aber wenn man weiß, dass es schwer ist, dann tastet man sich mehr voran als dass man läuft. Und ständig fragte ich Passanten, ob ich auf dem richtigen Weg war. Mit deren Hilfe schaffte ich es an die Themse ohne allzu viel Zeit verloren zu haben, aber mein Tempo glich dem der Kölner Verkehrsbetriebe (KVB): Kaum merkliche Bewegungen!
Ich schob mich mehr vorwärts als dass ich ging, von Laufen war schon lange keine Rede mehr. Ich passierte ein großes und schönes Restaurant mit einem riesigen Biergarten davor, da stand einer auf und kam auf mich zu. „Du musst Tom sein,“ sagte er. „Ich bin Jack. Ich habe auf Dich gewartet. Ich begleite Dich jetzt bis zum nächsten CP.“ Der arme Jack musste sich mein langsames Tempo antun, aber dank netter Gespräche und seiner immensen Ruhe, die er ausstrahlte, schaffte ich die 7 Meilen bis zum CP9 in Abingdon dann doch irgendwie. „Drei Läufer sind hinter Dir,“ sagte Jack. Drei Läufer? Einer davon war Javed, der sich mit den beiden anderen, Ernie und Kate, dort im Biergarten ein Abendessen gegönnt hat.
Es gehörte zur Strategie von Javed, nur kurz im CP9 zu bleiben, um durch die Nacht ins Ziel zu laufen. Kein Grund für mich, meine gewählte defensive Strategie zu ändern.
Im CP9 angekommen machte ich das gleiche Procedere wie am Vortag. Ausgiebig essen und trinken, Hirschtalg und After Sun Lotion für die Beine, Fesseln und Füße, viel trinken und schlafen bis zum Ende der Cut-Off Zeit. Dachte ich zumindest.
Der Verantwortliche für diesen CP riet mir dringend davor ab, bis 2:30 Uhr auszuharren, weil er der Ansicht war, ich würde sonst das letzte Stück nicht mehr in den gesetzten 10.5 Stunden schaffen. „Und wenn Du eine Minute zu spät einläufst, dann bist Du kein Finisher!“ Mir war klar, dass ich keine Probleme mit der Zeit haben werde und wollte dennoch an meiner Strategie festhalten. Ausserdem dachte ich, dass es im Wesentlichen sein Interesse war, den CP früher schließen zu können.
Andy, der Läufer vor mir, war schon bei der Schleuse des ersten Bogens, einem Punkt, den ich erst im Morgengrauen des nächsten Tages erreichen sollte, als ich noch beim Essen war. Javed war mit seiner Strategie sicher auch schon weit vor mir, aber Ernie und Kate schliefen auch im Schlafzelt. Sie wollten um 1 Uhr geweckt werden. Geweckt werden von einem, der eigentlich will, dass er den CP vorzeitig abbauen kann, bedeutet, dass er die beiden so lautstark geweckt hat, dass auch ich wach war. Ich konnte gar nicht anders. Und ich konnte nicht wieder einschlafen. Nach einer weiteren Viertelstunde entschied ich, jetzt doch zu gehen, diesem Herren einen früheren Feierabend zu gönnen. Ich zog mich an und verließ den CP dreißig Minuten nach Ernie und Kate.
Nach Abingdon wurde die Strecke sehr, sehr einsam. Ich hätte nie geglaubt, dass die Themse so einsam sein kann. Es waren zwei Bögen der Themse zu laufen, einer einsamer als die andere. Ich wurde schon vorgewarnt, dass alleine der erste Bogen einige Stunden Zeit in Anspruch nehmen würde. Auf der Karte sah das gar nicht so wild aus. Und es war wieder angenehm kühl und feucht in der Nacht, ich konnte wieder einigermaßen laufen und ich holte Ernie und Kate schon nach vierzig Minuten ein. Was für ein Gefühl. Ich war nicht mehr Letzter! Und ich war auch nicht mehr letzter Mann! Position halten, mehr geht nicht, dachte ich.

Der erste Bogen war passiert, der zweite begann, Nebel lag über den Feldern, die Sonne ging auf. Es war einsam, aber wunderschön, ein perfekter Morgen. Und es waren nur noch gut 10 Meilen zu gehen, ich war sicher, finishen zu können, ich war nicht Letzter, mir ging es richtig gut. Und ich begann, gelegentlich wieder zu laufen. Am Ende des zweiten Bogens überquerte ich die Themse, es ging durch ein Dörfchen und von rechts aus einer Seitenstraße kam Andy, der ja schon am Vorabend am Ende des ersten Bogens war. „Wo kommst Du denn her?“ fragte ich ihn. „Ich war so müde,“ antwortete er, „ich musste schlafen.“ Und ich bot ihm an, ab sofort gemeinsam weiter zu laufen. Wir trabten also gemeinsam und ich wunderte mich, dass ich tatsächlich dauerhaft laufen konnte, ohne Gehpausen machen zu müssen. Ich sagte mir aber auch, dass ich es nicht zulassen wollte, diesen frisch gewonnenen Platz im Ranking wieder abgeben zu müssen. Ich wollte also alles tun, um nicht hinter Andy zu fallen. Das war aber nicht nötig, er strich nach zwei Meilen die Segel und ließ sich nach hinten fallen. Auf den folgenden sieben Meilen nahm ich ihm noch 21 Minuten ab.

Und rund drei Meilen vor dem Ziel, ich war mittlerweile in ein echtes „Runner’s High“ gefallen und lief schneller als zu jeder anderen Zeit des Rennens, passierte etwas, mit dem ich auch nicht mehr gerechnet hätte. Javed hing an einem Straßenschild, vollkommen am Ende. Er versuchte 50 Meter lang, mir zu folgen, es ging aber nicht. Ich flog dem Ziel entgegen. Noch zwei Meilen.
Und ich rannte über eine Wiese und da stand Jack. Jack vom gestrigen Abend. Jack, der mich in meiner dunkelsten Periode des Laufs bespaßt und begleitet hat. Und ich rannte an ihm vorbei. Er staunte ungläubig. Ich lief und lief und lief und nahm Javed auf knapp drei Meilen 33 Minuten ab. Selbst Andy überholte Javed noch und lief 12 Minuten vor ihm ins Ziel.
Ich aber rannte und rannte, noch über die beiden letzten Brücken zwischen Streatley und Goring. Ich sah schon das Ziel, hörte die Menschen im Ziel und ich hörte erst auf, zu laufen, als ich die Ziellinie überschritten hatte. Sechseinviertel Stunden hatte ich noch für die letzte Strecke zwischen CP9 und dem Ziel gebraucht, ich hätte mir noch fünfeinviertel Stunden länger gönnen können. Alles war plötzlich so klar und leicht und ich fragte mich, warum ich in der Hitze des Freitagnachmittag und des Samstagnachmittag solche Probleme hatte.
Ich war drin, 400 Kilometer in 94 Stunden und 44 Minuten waren gelaufen. Von den 34 Startern kamen am Ende nur 14 Läufer ins Ziel, ich war Zehnter, Andy Elfter, Javed wurde Zwölfter und Ernie und Kate kamen danach zusammen ins Ziel, geschunden und spät, aber dennoch sicher vor dem Cut-Off.
Kate war übrigens erst die zweite Frau überhaupt, die dieses Thames Ring Race finishen konnte! Der Sieger, Steve, brauchte mit 66 Stunden und 47 Minuten fast 28 Stunden weniger als ich, es war mir egal.
Mission Finish erfüllt,“ dachte ich und ich wurde mit einer Finisherplakette belohnt, die es wirklich wert war, sich so zu schinden. Ein Metalloval „Thames Ring, 248 Miles, 175 Locks“ mit einem Steuerrad in der Mitte, aufgeschraubt auf ein Holzplättchen und darauf noch eine dünne Metallplatte mit „BRITAINS LONGEST NON-STOP RACE 2013“ eingraviert.
Ich war stolz und ergriffen und zum Schluss liefen dann doch bei mir wieder die Tränen._10th Thomas Eller 9444
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MdS 2: „Herr Ober – Zahlen bitte!“

Der 25. Marathon des Sables ist vorbei. Endlich. Leider. Und glücklicherweise.
Das sind die nackten Zahlen dieses Jubiläums-Events:

– 1.013 Teilnehmer
– 923 Finisher
– 470 Helferinnen und Helfer
– 58 Läufer aus Deutschland, Österreich und der Schweiz
– 53 Finisher aus dem deutschsprachigen Gebiet
– 250 Kilometer zu laufen, eine Verlängerung gegenüber den
– 230 – 235 Kilometern der anderen Events

– 82 Kilometer hatte die längste Etappe
– 21,1 Kilometer hatte die kürzeste Etappe
– 7 Lauftage in
– 6 Etappen
– 1 Traum


Mein Traum …
… meine Nacht.
Und mit der will ich anfangen, von meinem Marathon des Sables zu erzählen.

Mein Traum – meine Nacht: 82 besondere km

Es ist 16 Uhr 30 in der marokkanischen Sahara. Ich trabe locker mit der hübschen Schwedin Petra die Hochebene entlang und wir reden über das, worüber Läufer reden: über Läufe. Ich erzähle ihr, dass ich schon am Wochenende nach dem MdS den „Sächsischen Mt. Everest Treppenmarathon“ in Radebeul laufen will, eine Information, wegen der Petra mich am Morgen danach „The crazy guy“ und später dann, wohl, um den Ausdruck zu relativieren, „The stairs guy“ nennen wird.

Sie läuft mit Stöcken und ist mir am Ende dann doch etwas zu langsam, ich schwitze, leide und hoffe auf den Kontrollpunkt „CP3“ und auf eine lange Pause dort. Es ist heiß und trocken und der Sand, der in der Luft schwebt, macht den Mund ständig trocken und lässt die Zähne knirschen.

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Endlich sehe ich „CP3“ in der Ferne und freue mich darauf, den Puls ein wenig senken zu können, einen kurzen Moment lang wenigstens. Wie ich so vor mich hinträume, wie ich den Rucksack abschnalle, die Wasserflaschen auffülle, Peronin in die eine und Isopulver in die andere Flasche fülle, wie ich fantasiere, wie eine hübsche und nette marokkanische Tänzerin mir Kühle zufächert und mir eine eiskalte Coca-Cola anbietet, passiert etwas sehr hilfreiches: die Sonne verschwindet hinter ein paar Wolken und es wird mit einem Schlag ein paar Grade kühler.
Sofort merke ich, dass ich auch am „CP3“ keine Pause brauche, sondern wenigstens noch bis zum „CP4“ weiterlaufen kann.

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Am „CP3“ saß der erschöpfte Zeltkumpan Tilmann auf dem Boden und ich motiviere ihn, in reduziertem Tempo mit mir weiterzugehen. Tilmann folgt artig und wir erleben eine Etappe mit vielen ausgetauschten Ideen, mit der Begleitung durch eine attraktive Französin, die sich erkundigt, ob Anke Molkenthin wieder zu uns stoßen würde und uns berichtet, dass Anke ihr begebracht hat, wie man auf Dünen läuft und mit dem langsamen Einsetzen der Dämmerung und dem Untergehen der Sonne. Es ist schon fast dunkel, als wir „CP4“ erreichten, Tilmann sich eine weitere Pause gönnte und ich mich drei anderen Deutschen anschloss, um nicht alleine im Dunkeln die Dünenpassage bewältigen zu müssen.

Es sind Stefan aus Hannover, der den MdS schon im Jahr 2007 gemacht hat und ihn dieses Jahr mit seiner Freundin Jutta erleben will. Stefans Bestzeiten auf den Kurzstrecken bis hin zum Marathon sind besser als meine, danach aber sind meine Zeiten weitaus ansprechender. Ich bin eben der „Ultra-Man“, der stets langsam beginnt. Ferner sind es der Schweizer Roland, der stets leicht an seiner grünen Skinfit-Hose zu erkennen ist und der Mönchengladbacher Oliver, der Apotheker, der mir in der Nacht von einem von ihm organisierten 50-Stunden-Spendenlauf berichtet, bei dem er mit seinem Unternehmen, unterstützt durch etliche Läufer und Geld der Pharma-Industrie, die stolze Summe von 23.000 EUR für soziale Zwecke erwirtschaftet hat – eine großartige Leistung für wirklich gute Zwecke.
Zu dritt finden wir den Weg sehr leicht. Die vom Veranstalter aufgehängten Knicklichter sind häufig und weithin sichtbar, zudem haben die Läufer vor uns Knicklichter am Rucksack hängen. Nur wahre Künstler schaffen es in dieser Nacht, den Weg zum „CP5“ kreativ auszulegen und eigene Bahnen zu ziehen. Alle Sorgen, die ich vorher wegen dieser Laufnacht hatte, zerfallen im Sand der marokkanischen Dünen und ich war froh, dass es so einfach war.

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Roland und Oliver sind vielleicht einen halben Schritt zu schnell für mich und Stefan hinkt sichtlich hinterher, also entschließe ich mich, in etwa auf halber Entfernung zwischen „CP4“ und „CP5“, mit Stefan zu laufen und die beiden andern ziehen zu lassen. Es wird später und später und kühler und kühler. Es wird richtig schön und angenehm. Und ich denke an das Buch, das ich nie geschrieben habe, das aber, wenn es denn existieren würde: „Die Bekenntnisse des Nachtläufers TomWingo“ heißen würde. Ich liebe es, durch die Nacht zu laufen und denke an die Nächte in Biel, bei Baden-Baden, bei Chamonix und in Radebeul – und ich werde schneller.
Ich erzähle Stefan die eine oder andere Geschichte, er antwortet immer seltener. Irgendwann antwortet er gar nicht mehr. Kann er auch nicht, weil der Atem im Nacken, den ich ihm zugeschrieben hatte, gar nicht von ihm war. Er war von einem Franzosen und ich realisiere, dass von Stefan in der Dunkelheit nichts mehr zu sehen ist, also gehe ich etwas schneller weiter.

Beim „CP5“ treffe ich Roland und Oliver erneut, ich entledige mich des Bergwerks in meinen Schuhen und bekämpfe ein kleines Hüngerchen durch ein Drittel Riegel Powerbar „Cookies & Cream“, den ich von Roland bekommen habe. Meine eigenen Riegel sind im Rucksack und dafür, die dort zu suchen, haben wir keine Zeit. Wir gehen gleich weiter und ich beschleunige zusehends.

Bald bin ich alleine und am Ende der Dünen, beim „CP6“ geschieht ein kleines Wunder. Zuerst schimpfe ich mit mir, weil ich mal wieder viel zu defensiv diese Langetappe angegangen bin. Getreu dem Motto „save some space for the desert“ habe ich etwas Luft gelassen für befürchtete Hürden, die aber gar nicht gekommen sind. Ich war frisch wie ein Frühlingsmorgen, die Muskeln waren locker und ich wollte möglichst früh schlafen gehen. Ich weiß ja, dass ich das Problem habe, nur schlecht bei Licht schlafen zu können und daher war es mein Ziel, noch vor 1 Uhr 30 in der Nacht im Biwak einzutreffen, damit die dunkle Nacht noch so lange dauert, dass ich auf eine nennenswerte Anzahl an Schlafstunden komme.

Ich erhöhe nun Schritt für Schritt mein Tempo und vielleicht vier oder fünf Kilometer vor dem Ziel sehe ich am Ende des Weges einen hellen Schein, das Biwak. Und ich war davon angezogen. Wie die Motte zum Licht begann ich noch einmal richtig zu rennen und von da an überholte ich 21 Läufer in einem schon enorm auseinandergezerrten Läuferfeld. Und ich werde ständig schneller. Ich erlebe das, was das Laufen so außergewöhnlich schön macht: das „Runners High“.
Als wäre ich gerade eben erst gestartet, als hätte ich nicht schon 80 Kilometer hinter mir, als hätte ich nicht knapp 10 Kilogramm Gewicht auf den Schultern und als wäre es die letzte Etappe des Marathon des Sables renne ich, wie ich schon lange nicht mehr gerannt bin.

Manche der Läufer, die ich noch überholen will, wehren sich und fangen plötzlich auch noch mit dem Laufen an, aber es hilft nichts. Stück für Stück komme ich näher, bin ich parallel und auch gleich vorbei. Noch einen Kilometer, noch eine Vierergruppe, die am Ende scheint. Noch fünfhundert Meter, noch zweihundert Meter, das Ziel kommt immer näher. Die beiden letzten Läufer, die ich überhole, sind eine Französin mit Ihrem Lebenspartner, die Hand in Hand gehen und das schnaubende Etwas von hinten anrollen hören, sich umdrehen und verwundert stehen bleiben. Sie stehen vielleicht dreißig Meter vor dem Ziel und lassen die Dampflokomotive an sich vorbei stampfen und applaudieren. Unglaublich.

Und ich wünsche, dass das Ziel noch zwanzig, dreißig Kilometer weiter nach hinten verlegt würde. Ich weiß, dass diese Etappe meine mit Abstand Beste sein würde, dass meine Tagesplatzierungen sich umgekehrt proportional zur Etappenlänge verhalten.
Ich liebe einfach die „langen Kanten“ und ich fühle mich wie eine AAA-Batterie der Firma mit dem tollen Werbespruch. Unten schwarz, mit goldenem Kopf, garniert mit dem Slogan:
„Hält länger durch …!“

Die 16 Stunden, 13 Minuten und 18 Sekunden für die knapp über 82 Kilometer sind die letzten Zahlen des Berichts. Es hätten kleinere Zahlen sein können, wenn ich weniger defensiv begonnen hätte. Ich weiß das und ich ärgere mich darüber. Aber ich bin auch froh, diesen Zieleinlauf erlebt haben zu dürfen.

Herr Ober, Zahlen bitte!