Ich liege auf dem Boden hinter der Ziellinie, der Rucksack ist abgeschnallt, es ist geschafft. Die größte sportliche Herausforderung meines Lebens ist vorbei und ich fühle nur das Glück in mir und den Stolz, der aufsteigt.
Es ist einfach fantastisch, alles für diesen Moment!
Vorbei sind die Gedanken an die Schmerzen vor allem in den letzten 10 Stunden, die Sehnenscheiden-Entzündung, die jeden Schritt zur Qual machte und die Muskelprobleme im Oberschenkel, die es mir kaum mehr ermöglichten, die oft 60cm hohen Steinblöcke zu überwinden, die aus dem Lauf einen „Geh“ oder einen „Steig“ gemacht haben.
Wenn ich im Vorjahr noch geglaubt habe, dass der TransAlpineRun 2008 meine größte Leistung sein würde, dann wurde ich eines Besseren belehrt. Nicht nur, dass der UTMB rund zwei Drittel so lang war wie der TransAlpineRun 2008, er hatte auch zwei Drittel der entsprechenden Höhenmeter. Was er aber nicht hatte, waren zwei Drittel der Zeit. Auch hatte er keine sieben Übernachtungen dazwischen, in denen der Körper zumindest teilweise regenerieren konnte.
Er hatte nur eine Vorgabe: Nonstop 166 Kilometer über die Berge – und das bei 9.400 positiven und ebenso vielen negativen Höhenmetern mit einer Maximalzeit von 46:00:00 Stunden. Dazwischen lagen Cut-Off Zeiten, die, wenn Du sie nicht unterbieten konntest, Deine sofortige Disqualifizierung bedeuteten. Ein Lauffreund, Andi von der Ostsee, scheiterte beispielsweise erst an der letzten Cut-Off Zeit. Nur rund 7 Kilometer vor dem Ziel war er 8 Minuten zu langsam und durfte deshalb nicht zu Ende laufen. Das ist bitter!Für mich waren dabei die Abwärtspassagen noch viel schlimmer als die Aufstiege. Wenn Du 1.100 Höhenmeter fast senkrecht einen steilen Berg herunter gehst, dann brennen Dir die Oberschenkel wie Feuer.
Du denkst an Ewald Lienen am Ende seiner Fußballer-Zeit und seinen nach einem bösen Foul explodierten Oberschenkel. Aber Du weißt, dass Du gleich nach ein paar Minuten Pause auf der anderen Seite des Tals wieder genau so viele Höhenmeter nach oben zu gehen hast, wie Du unter Schmerzen herunter gekommen bist. Und Du stellst Dir die Frage der Fragen:
„Hätten die Franzosen hier keine Brücke bauen können?“
Die eiskalten Nächte, der erbärmliche Wind auf der Höhen und die heiße August-Sonne am Tag – all das ist vergessen, wenn Du im Ziel bist. Du erinnerst Dich nur noch an die letzten fünfhundert Meter durch Chamonix, wo Du an Tausenden von jubelnden Zuschauern vorbei gelaufen bist und Du noch Kraft hast für den Schluss-Spurt durch diese schöne Stadt. Eigentlich würdest Du am liebsten gehen, aber wer will sich diese Blöße geben? Also laufen, laufen, laufen, bis endlich die Ziellinie zu sehen ist.
Überhaupt sind die Franzosen ein tolles Volk. Egal, wo Du warst, die Passanten wussten immer, welcher Wettbewerb gerade läuft, sie begrüßen Dich mit Deinem Vornamen und rufen Dir zu: „Courage!“ Das motiviert Dich immer wieder aufs Neue. Die wohl netteste Begenung mit einem französischen Spaziergänger hatte ich kurz vor dem Ziel auf dem letzten Berg. Es war das erste und einzige Mal, dass mir ein Steinchen in die Schuhe gekommen ist, also hielt ich an, setzte mich und versuchte, die Schuhe auszuziehen.
Aber das ist gar nicht leicht nach über 40 Stunden, bei übersäuerten Muskeln und Schmerzen, wo auch immer man in sich hineinfühlt. Ich glaube, ich muss ein erbärmliches Bild abgeliefert haben und ein junger gut aussehender Franzose kam auf mich zu und half mir.
Aus dem Schuh, das Steinchen entfernen und wieder in den Schuh. Er hat mir sogar den Schuh wieder gebunden, ganz professionell.
Mir war das eher peinlich und ich versuchte ihm zu erklären, warum ich so ungelenk war. Aber er wusste alles von dem UTMB Wettbewerb, von der Länge des Laufs, von der zu bewältigenden Höhe und dem Zeitlimit. Wirklich sachkundig, so wie die meisten Passanten, die einem stets den Weg frei gemacht und einem Mut zugesprochen haben. „Courage!“ oder „Allez! Allez!“Insgesamt hatte ich „nur“ 41:53:22 Stunden gebraucht. Aber das ist eigentlich gleichgültig. Entscheidend ist, dass ich gefinished habe, oder?
2.300 Läufer sind gestartet, nur 1.382 Läufer sind bis ins Ziel gekommen. Und ich erzielte den 777. Platz von allen – und das bei meinem 77. „Marathon und länger“, ist das nicht lustig?
Ich war dabei der 340. Läufer meiner Altersklassen-Wertung, auch ein respektables Ergebnis, wenn man weiß, dass die Altersklasse M45 überalle eine der stärksten Gruppen im Ultra-Laufbereich ist.
Dabei habe ich mir in Trient 150 Minuten Schlaf gegönnt, 150 Minuten, die mich rund 250 Plätze gekostet haben. Aber mir war meine Sicherheit wichtiger als eine bessere Platzierung. Ich war kurz vor Bovine während des Laufens kurz eingeschlafen, wahrscheinlich nicht länger als eine Zehntel Sekunde, aber es reichte zum Sturz und dazu, dass ich mich gefragt habe, ob ich ein weiteres Risiko eingehen sollte. Auf dem Berg bei Bovine durfte ich aber nicht schlafen, deshalb kämpfte ich mich weiter bis Triest, um dort wie ein Obdachloser nach einem Bett und einer warmen Suppe zu fragen.
Bis zum Kilometer 78 (Courmayeur) dachte ich noch, vielleicht mit 36 bis 38 Stunden ins Ziel zu kommen, aber die schwerer Hälfte kam ja noch, die wesentlich schwerere Hälfte. Und es kam noch die zweite Nacht, vor der ich schon am Anfang Angst hatte. Zu viel Negatives habe ich darüber gelesen, zu viele Gedanken habe ich mir darüber schon im Vorfeld gemacht. Am Ende hatte ich in einer Zeit gefinished, die ich mir vorher niemals zugetraut hätte. Alles war also gut!
Das schönste Geschenk aber habe ich direkt nach den Fotoaufnahmen im Zielbereich bekommen: die schwarze UTMB-Finisher-Weste von „The North Face“. Nur für diese Weste bin ich gelaufen und ganz bestimmt werde ich sie nie wieder ausziehen, nicht an Tag und nicht bei Nacht. So viel hat mir noch nie ein Kleidungsstück bedeutet wie diese Weste.
Danke an „The North Face“, danke an das UTMB-Orgateam!