Dienstag, 28. Juli
Es sind nur 28,5 Kilometer heute, das kann doch nicht so schwer sein, oder?
Wir starten wieder mit den Läufern des 6G-Bewerbs, das ist schön. Man ist nicht so alleine.
Ich laufe neben der Karla Bruning, der US-amerikanischen Journalisting, her, mal vor ihr, mal neben ihr, mal hinter ihr. Es geht sehr lange relativ flach auf einer „dirt road“ Richtung „nächste Stadt“, dort dann nach rechts bis zur Moschee, dann links und weiter, wieder eine „dirt road“ bis zu einem See. Der ist nach knapp 8 Kilometern erreicht, der CP ist in Sichtweite, wir dürfen aber dort noch nicht hin.
Erst wird noch eine Runde um den See gedreht, rund 2 1/2 Kilometer. Erst dann gibt es ein kühles Wasser im CP, ein paar aufmunternde Worte und die besten Wünsche für den weiteren Weg.
Diese Wünsche brauchen wir auch, denn was folgt, ist einer der ekligsten Anstiege des gesamten Bewerbs. Nur Karla, die Journalistin, steigt an diesem Punkt aus, schade eigentlich, denn vor diesem Ekelanstieg gibt es erst einmal ein echtes Highlight.
Eine wunderschöne, alte, verlassene Stadt, angeschmiegt an eine lange Steilwand. Der Weg war etwas schwer zu finden, ich folge dem ewig gut gelaunten und gut gebauten Läufer des 6G-Bewerbs, der immer wieder in den Filmchen zu sehen ist. Er läuft falsch, ich hinterher.
Irgendwann sehen wir Flaggen unten im Tal, ein Auto, einige Helfer, eine Brücke und ich sehe noch Brice, den französischen Journalisten, mit dem ich noch das Zelt teilen darf.
Er ist es auch, der dort drei schöne Aufnahmen von mir macht – mit Kulisse!
Oder macht er schöne Aufnahmen der verlassenen Stadt mit mit im Vordergrund? Egal. Die Aufnahmen sind eine kleine Ruhepause wert.
Und direkt nach der Brücke beginnt dieser Ekelanstieg. Erst ist er noch harmlos, dann wird er immer steiler. Die Sonne brennt unbarmherzig auf uns herab und irgendwann steht ein Baum links am Weg. Ein Baum! Das bedeutet: Schatten!
Wir Läufer lösen einander beim „Schatten tanken“ ab. Einer kommt, einer geht. Eine Minute keine direkte Sonne, vielleicht auch zwei Minuten lang!
Der Weg wird immer steiler und ich frage mich, wie die Läufer des „Lycian Way Ultra Marathon“ die vielen Anstiege schaffen. In der September-Hitze, rund 1.000 Höhenmeter tiefer als bei uns in Kappadokien?Zur Belohnung verlassen wir jetzt den Feldweg und es geht geradeaus eine Wiese hinauf, die steilste Passage überhaupt. Weit oben sehe ich die Flagge, die wir erreichen müssen. Ich schiebe mich hoch und hole den Südkoreaner Lee dort ein. Bergauf hat er seine Schwächen, auf der Ebene aber ist er ein besserer Läufer als ich. Lee hat so viel Lauferfahrung, insbesondere mit solchen 6-Etappen-Läufen, er ist Dauergast bei „Racing the Planet“, seinen Traum aber will er sich 2016 erfüllen: Der UTMB ist sein großes läuferisches Ziel. Ich werde 2016 genau hinsehen, ob er in der Lotterie Glück hatte und ob er finishen konnte.
Nach der Flagge ist aber noch nicht oben, links oben ist noch eine Flagge, wieder gerade über die Wiese, aber wesentlich weniger steil. Und von dort aus sieht man den CP2, einen Kilometer, vielleicht eineinhalb, leicht abfallend, also machbar. Und dort haben die 6G-LäuferInnen Feierabend. Wir aber müssen, dürfen, wollen noch rund 9 Kilometer weiter.
Wir, das sind die anderen Ultraläufer, die schon durch sind, ich und Lee, auf den ich dort brav warte.
Und nun geht es eigentlich nur noch runter. Rund vierhundert Höhenmeter runter und am Ende noch einmal eine kleine Klippe hinauf. Wir sind schnell, sehr schnell. Und wir verbessern die vorausberechnete Zeit um 30 Minuten. Es läuft „wie Sahnekuchen“ … die Klippe hinauf, über den kleinen Buckel …
Ich überlege, dass mein Vorsprung, den ich mir auf Ozcan auf den beiden ersten Etappen herausgelaufen hatte, nicht allzu groß war, dass Ozcan schon den CP2 verließ als ich kam, dass ich lange auf Lee gewartet habe und dass ich alles tun sollte, nicht allzu spät hinter ihm ins Ziel zu kommen. Also rennen.
Lee und ich sehen den kleinen Hügel hinab, die Straße, wir sehen das abgeerntete Weizenfeld und irgendwo dahinter das Camp. Wir rennen. Den Hügel runter, über die Straße, über das Stoppelfeld, … wir schaffen das noch unter 4:30 Stunden! Knapp, aber es wird passen. 100 Meter vor dem Camp winken die Helfer. Wir hätten auf der Straße nach rechts gemusst, an einem Haus vorbei, dann links den Weg entlang. Easy going statt pieksendem Stoppelfeld!
Vor uns noch ein grünes Feld. Wir sehen alle, wir hören alle, aber wir dürfen nicht über das Feld. Den ganzen Mist über das Stoppelfeld zurück, auf die Staße, nach links …
Ganz ehrlich: so sauer war ich schon lange nicht mehr im Ziel.
Und ganz bestimmt habe ich da Dinge gesagt, die ich am Abend schon bedauert habe. Aber 7 Minuten verlieren ist doof, irgendwie.
Irgendwie aber auch nicht bei solchen Strecken und diesen durch die Hitze und die Rucksäcke gebremsten Laufzeiten.
Wenn Auslegeware da gewesen wäre, ich hätte trotzdem hinein gebissen …
… aber nach ein, zwei Zitronenschnitzen mit Salz (ein Service der Organisation, die uns ja sonst nur Wasser gab!) war mein Mütchen auch wieder gekühlt und mir ging es auch wieder besser.
Ein wenig geschämt habe ich mich dennoch.
Das Volunteer-Team, das unentgeltlich arbeitet, hat ja ein Recht, kein „Rumpelstilzchen“ besänftigen zu müssen …
Aufgabe für die Zukunft: gelassen bleiben!
Die bewegten und bewegenden Bilder des Tages gibt es hier:
Montag, 27. Juli
199 ist die Zahl des Tages. Oder 53. Je nachdem. Je nachdem, worauf ich schaue.
Es ist der zweite Lauftag, eine 53,6 Kilometer Etappe steht an, ein Ultramarathon. Mein „MuL“ Nummer 199!
Zeit, auf diesem Blog bald einen dritten Hunderterpack, von mir liebevoll „century“ genannt, zu beginnen. Aber noch ist es nicht so weit. Erst müssen eben diese Nummer 199 und eben auch die 200 gelaufen werden. Und das wird hart genug …
Der RaceDirector meint es gut mit uns und lässt uns statt um 9.00 Uhr schon um 6.00 Uhr starten. Also aufstehen um 5.00 Uhr, frisch machen, Sachen packen – hier dauert das Stopfen des Schlafsacks und das Einrollen des aufblasbaren Kopfkissens am längsten – und ein TravelLunch Müsli zubereiten. Dabei stellt sich am Morgen immer die gleiche Frage: nehme ich das Müsli mit Früchten oder das Schoko-Müsli? Wenn die Welt doch immer so einfach in zwei Kategorien zu unterteilen wäre!
Dass wir so früh starten dürfen, liegt auch daran, dass zur Belohnung schon nach wenigen Kilometern des Einrollens eine lange Steigung kommt. Wie fast immer ohne Schatten. Aber am frühen Morgen wird das einfacher sein als eben drei Stunden später, insofern bin ich über die frühe Startzeit sehr glücklich.
Die 6G-Läufer starten viel später und ganz woanders, sie laufen nur einen Teil unserer gut 53 Kilometer mit, also sind wir allein. 8 Starter, ein recht übersichtliches Feld. Zwei Cracks, zwei gute Läufer und eben „wir vier“, die wir irgendwie ähnlich gestrickt sind, wobei ich der schlechteste Starter von uns Vieren bin, dafür hintenraus scheinbar weniger Geschwindigkeit verliere, zumindest konnte ich die drei anderen immer noch ein- und überholen, zumindest an den beiden ersten Tagen.
Ich starte also wieder hinten, aber ich versuche, den Kontakt zu den Vorderleuten nicht abreißen zu lassen. Immer in Sichtweite laufen, das erspart Dir viele Blicke auf Dein GPS-Gerät, sage ich mir. Ich kann bis zum CP 1 mithalten, dann reißt der Kontakt doch ab und ich trotte den 6 Läufern und der Läuferin hinterher. Wie immer habe ich den TorTour de Ruhr – Buff auf dem Kopf liegen, damit er den Nacken bedeckt und vor der Sonne schützt, darüber meine knallrote X-BIONIC Schirmmütze.
Es ist eine landschaftlich mäßig interessante Etappe und das ist noch sehr wohlwollend formuliert. Felder, „dirt roads“ ohne Ende. Highlights waren sicherlich die vielen Bewässerungsanlagen, die die Bauern zum Bewässern ihrer Felder nutzten. Manches Mal habe ich mich direkt vor so einen Sprinkler gestellt, um Abkühlung zu finden.
In etwa ab Kilometer 27 lief ich erst auf den ersten Läufer auf, dann waren wir irgendwann wieder zu viert und nach dem letzten CP haben wir die Türkin und den Südkoreaner hinter uns gelassen und sind zu zweit weiter und zu zweit eingelaufen. Wieder hat die Strategie „langsam starten“ funktioniert.
Insgesamt war es sicher die am wenigsten interessante Etappe. Aber der MuL 199 war erledigt, abgearbeitet und meine Gedanken drehten sich nur noch um das Abendmenü. TravelLunch „Vegetarische Pasta mit Kräutersauce“ stand auf dem Küchenplan.
Die Augen fest vom Buffet abgewandt, aber doch ein wenig neidisch auf die, die daran teilnehmen durften.
Die bewegten und bewegenden Bilder des Tages gibt es hier:
Sonntag, 26. Juli
Brice, mein französischer Journalistenfreund, weckt mich schon kurz vor 5 Uhr. Es ist noch dunkel.
„Komm,“ sagt er, „das musst Du Dir ansehen!“
„Das“ waren einige Fesselballons, die gerade aufgeblasen wurden. Direkt hinter unseren Zelten!
So nah war ich noch nie dabei. Das Zischen der Gasfeuer war laut und deutlich, die Szenerie atemberaubend schön.
Der erste Lauftag begann also schon mit einem riesigen Highlight, besser, mit unzähligen riesigen Highlights. Beim Rundblick sah ich nämlich viele Dutzend Ballons, teils waren sie noch im Aufblasstadium, viele aber waren schon in der Luft. So viele Ballons sieht man sonst nur bei bestimmten Ballon-Events, hier in Kappadokien aber ist das Routine, ein gigantisches Tagesgeschäft.
Es wurde hell, ein Koffer aber war nicht zu sehen.
Dafür aber hieß es, der Koffer wäre in einem Hotel in der Nähe abgegeben worden, also fuhr man los und brachte ihn mir. Noch rechtzeitig vor dem Start!
Also musste ich nicht in einer geliehenen Hose laufen, nicht in einem unbekannten Shirt, ich hatte meine Salztabletten, meine Stöcke … ich war glücklich. Für einen Moment lang dachte ich, dass ich mich bei jedem Anwesenden persönlich bedanken müsste. Ich hatte ja stets das Gefühl, dass mir niemand meine Version mit dem verschwundenen Koffer geglaubt hatte. Ist ja auch irgendwie eine coole Idee, dem Veranstalter zu erklären, warum die Pflichtausrüstung nicht da ist!
Ich muss mir diesen Trick mal merken, vielleicht hilft es ja irgendwann mal.
Die erste Etappe war der landschaftlich schönste Teil, der nur noch von der letzten Etappe am letzten Tag überboten wurde. Es war eine aufregende Landschaft über und durch die Tuffstein-Berge, auf und ab, teils auch durch Tunnel. Es ging durch einen Canyon erst mal in die „Hauptstadt“ der skurrilen Berge, nach Göreme, durch Göreme und weiter ins Hinterland Kappadokiens.
Es gab einen gemeinsamen Start mit den Läufern des Bewerbs „20K“, die dann nach etwas 6 Kilometern unsere Strecke verlassen haben. Deren Strecke sind wir dann in der anderen Richtung am letzten Tag zurück gelaufen, zweifellos hat dieser Streckenteil die Schönheit des ersten Tages noch einmal deutlich übertroffen. Aber dazu an anderer Stelle mehr.
Ab dem CP2 war dann auch für die Läufer des Bewerbs „6G“ Schluss, wir Ultramarathon-Läufer durften noch etwas schwitzen.
Ich lief im Wesentlichen mit Lee, dem Südkoreaner. Wir bildeten die Schlussläufer, bis wir in etwa bei Kilometer 25 von gut 30 auf zwei weitere Läufer aufliefen und diese überholten. Wir blieben lange zu viert, dann aber zogen Lee und ich noch etwas an und wir waren alleine. Und so sind wir dann auch nach offiziell 30,5 Kilometern auch ins Ziel gelaufen.
„20K“, „6G“, später noch „4G“, „Toughest Day“ und „Ultramarathon“ … wovon rede ich da?
Ein kleiner Exkurs. Insgesamt gibt es bei diesem Event eben diese fünf Bewerbe. Die Läufer des 20K laufen nur einen Tag lang zwanzig Kilometer weit. Es ist ein „Schnupperangebot“, wie ich finde, ideal für die Einsteiger, aber unsinnig für uns, die wir zweitausend Kilometer weit anreisen. Diese Läufer habe ich dann nach dem Abzweig ihrer Strecke nie mehr gesehen.
Die Läufer des 6G laufen an sechs Tagen sechs Strecken zwischen 15 und 21 Kilometern. Sie tragen nur den „day pack“, etwas Wasser, vielleicht einen Riegel zur Sicherheit. Ihr Gepäck wird von Camp zu Camp transportiert, es gibt Frühstück und Abendbuffet im Camp und meist noch eine Snack-Tüte für die Zeit nach dem Tagesfinish. Es ist eine wunderbare Art, Laufen und Urlaub zu verbinden, sich mit anderen Läufern zu amüsieren und neue Freunde zu finden.
Die Läufer des 4G kommen erst Mitte der Woche. Sie laufen eben vier Strecken zwischen 15 und 21 Kilometern, die Regelungen sind identisch wie die bei den 6G-Läufern. Für uns, die wir von weit her kommen, ist 4G wohl auch keine realistische Alternative, für lokale Trailrunning Einsteiger aber sicherlich.
Die Läufer des „Toughest Day“ laufen ebenfalls nur einen Tag lang und das am Tag der „Königsetappe“, also der rund 108 Kilometer. Auch hier wird nur der „day pack“ getragen, auch wenn man sich für 20 oder 30 Stunden sicher den einen oder anderen Riegel mehr einstecken sollte. Dieser Bewerb geht leider im Gesamtevent unter. Er wäre aber für mich auch eine attraktive Alternative.Und zuletzt bleiben noch die Läufer des „Ultramarathon“, die, die nichts bekommen, außer Wasser. Die Regeln sind dabei hart. Du trägst Dein gesamtes Essen der Woche auf dem Rücken, die Ausrüstung, den Schlafsack, die Iso-Matte und alles, was Du in dieser Woche brauchst. Du bekommst von der Organisation nichts außer Wasser, Du darfst keine Shops besuchen, um Vorräte aufzufüllen und das wird mittels des Trackers und mittels der Präsenz der Helfer in den Städtchen auch scharf kontrolliert. Es ist eben genau gleich wie beim MdS – mit dem Unterschied, dass dort alle Läufer in dieser Situation sind, Dir niemand etwas vorisst, Du nicht an leckeren Buffets vorbei gehen musst, Dir niemand eine eiskalte Cola vortrinkt und keiner der anderen Läufer jeden Tag ein anderes schrilles Outfit anhat. Mentale Stärke ist also angebracht, das, was mir am meisten fehlt, fürchte ich …
Dafür hast Du im Gegensatz zum MdS im Camp richtige Toiletten, Du kannst täglich duschen, wenn Du magst, sogar vor und nach der Etappe, Du hast Strom, um deine elektronischen Helferlein zu laden, das macht die Sache leichter als beim MdS. Wie auch immer, so sind die Regeln halt. Akzeptiere sie oder entscheide Dich für den 6G Bewerb.
Nachdem wir dann im Ziel angekommen sind, habe ich mir mein TravelLunch Nachtessen zubereitet. Da gibt es im Gegensatz zum MdS auch einen großen Vorteil: Du kannst kochend heißes Wasser nehmen. Du musst keine Hölzchen sammeln, kein Feuerchen machen, keinen Esbit-Kocher mitschleppen …
Aber die kalten Getränke im Catering-Bereich sind nicht für Dich und niemand darf Dich damit verwöhnen.
Früh in den Schlafsack hüpfen ist die beste aller Alternativen.
Und das tat ich dann auch.
Die bewegten und bewegenden Bilder des Tages gibt es hier:
Samstag, 25. Juli
Ich sitze frühmorgens um 01:23 Uhr schon im Turkish Airlines Flieger nach Istanbul. Wir sind etwa 20 Minuten hinter dem Zeitplan, aber mein Anschlussflug scheint nicht gefährdet zu sein. Die Pause zwischen denFFlügen auf dem Atatürk Flughafen in Istanbul ist mehr als ausreichend.
Alles hat wunderbar geklappt, die Fahrt von Kempten nach Köln, der Parkplatz für das Auto, der Shuttle … wieder einmal umsonst besorgt gewesen ….
Erst in Istanbul realisierte ich, dass mir eine Stunde fehlt … die Zeitverschiebung! Fast hätte ich deswegen den Flieger verpasst, immerhin ist der Flughafen von Istanbul riesig. Der Weg vom „International Terminal“ zum „Domestic Terminal“ ist extrem weit, dauert lange und auch die Passkontrolle dauert. Riesige Schlangen davor, ich werde zunehmend nervös.
Turkish Airlines rühmt sich, in Istanbul eine VIP Lounge zu haben, die größer ist als mancher Flughafen auf dieser Welt. Später wird mir der dänische Ultraläufer eben von dieser VIP Lounge vorschwärmen. Drin aber war ich noch nie …
Geschafft, alles erledigt, ich bin am richtigen Gate. Das Boarding hat schon begonnen, aber alles passt.
Nur einer hat es nicht geschafft: mein Koffer. Hurra, der Koffer fehlt!
Das merke ich natürlich erst am Gepäckband des Zielflughafens, nachdem alle Gepäckstücke abgeräumt sind.
Es sind ja nur wichtige Sachen in diesem Koffer drin. Die Laufschuhe, die ganzen Laufklamotten, das GPS Gerät, die Laufuhr, die Stöcke, …
Was mache ich nun? Erkläre mal jemandem, der kaum Englisch spricht und Du kein Türkisch, wo Du den Koffer hinhaben willst, wenn er denn nachgekommen ist!
„Hoteladresse?“ fragt der Gepäckverantwortliche mich immer wieder.
Und ich erkläre ihm, dass wir in keinem Hotel sind, sondern in einem Camp. Dass dieses irgenwo bei Uçhisar sein sollte, ich aber nicht genau weiß, wo, dass wir aber schon einen Tag später dort wieder weg sein würden und wo es dann hinginge, dass wisse ich erst Recht nicht …
Welches Glück, dass Gozde Uysal, eine Läuferin des „6G“ Bewerbs, mir hilft und alles zu regeln versucht!
Aber sie kann auch nicht mehr, als erwähnen, dass am Nachmittag noch zwei Flüge rein kommen würden. Wahrscheinlich sei der Koffer dann auch in einem dieser beiden Flieger …
Ein Bus kommt, wir werden abgeholt. Der Flughafen Hava Limani ist recht weit weg von Nevşehir entfernt und auch dann geht es noch weiter, bis ins Zentrum von Uçhisar. Wir halten an einem Shop, damit wir uns noch ein paar Kleinigkeiten für den Tag kaufen können und es geht weiter zum Camp.
Ich hatte mir das Camp schon vor dem geistigen Auge ausgemalt und es sah da sehr ähnlich aus wie beim MdS, dem Marathon des Sables, damals, 2010, vor immerhin fünf Jahren.
Schön sah es aus, keine Frage. Aber man musste, wenn man sein Handy laden wollte, immer heimlich an einen der wenigen Computer, mit denen man damals dort eine (!) Mail pro Tag an die Lieben zu Hause schicken durfte, um den USB-Ausgang zum Laden zu verwenden. Das ging so lange, bis uns diese Praxis explizit verboten wurde.
Und ich erinnere mich noch an die ausgehobenen Löcher, die, von einem Sichtschutz abgeteilt, die Toiletten darstellten.
Ist das auch „Turkish style“?
Die Zelte sind größer, besser. Und sie gehen bis zum Boden und sind nicht nur ein Dach auf Stelzen. Und jedes Zelt verfügt – oh Wunder – über eine Steckdosenleiste mit 6 Anschlüssen. Handys laden, Laufuhr aufladen – alles geht!
Und es gibt zwei große Toilettenwagen, die mit jeweils drei Sitztoiletten, zwei Waschbecken und drei Duschen (!) ausgestattet sind. Und das Wasser in den Duschen ist sogar warm. Özge, die Chefin, sagt mir, dass das eben türkischer Luxus ist. Wie liebe ich den „Turkish style“!
Zwei Zelte sind für die Teilnehmer des Ultramarathon vorgesehen, ich meide sie und verschwinde ins Pressezelt, zu Karla, der US-amerikanischen Journalistin und zu Brice, dem Franzosen. Lehrer im Hauptberuf, Sportjournalist so nebenbei. Es werden tolle Tage und interessante Gespräche mit den beiden.
Die Übernahme der Startunterlagen war etwas holprig. Pflichtausrüstung? Ja, klar. Vieles habe ich im Rucksack, aber manches ist halt auch im Koffer. Es wird improvisiert und geholfen, ich habe dann meine Startnummer „002“ in der Hand.
Zum Glück hatte ich das „Medical Certificate“ und den Ausdruck des EKG’s schon vorab gescannt und gemailt. Diese Dinge sind ja auch im verschwundenen Koffer.
Mit Brice gehe ich dann rüber ins Städtchen, „looking for …“ … nein, nicht „freedom“, sondern „WiFi“. Wir treffen auf andere LäuferInnen, gesellen uns dazu und hören dem Geschnatter zu, ohne ein Wort zu verstehen. Wir bestellen irgendwo eine Cola, finden das begehrte WiFi und sitzen direkt über einem Fotoshooting einer türkischen Hochzeit.
Uçhisar ist eine riesige Baustelle, vieles ist schon restauriert, einiges steht aber noch an. Auf jeden Fall strahlt dieses Städtchen etwas Besonderes aus, nicht nur wegen der „Fairy Chimneys“, der skurrilen Tuffstein-Berge, die meist ausgehöhlt, mit Fenstern und Türen versehen, als Kirchen, Wohnstätten, Hotels oder einfach als Lager dienen.
Dass das Aushöhlen der Lebensdauer der „Feenkamine“ nicht zuträglich ist und eigentlich seit Jahren verboten ist interessiert scheinbar niemanden. Es ist aber auch viel zu Deutsch, in solchen Situationen an so etwas zu denken.
Genieße den Moment, er ist ja so schön!
Und wir gehen zum berühmten Schloss von Uçhisar, dem Uçhisar Castle, vor dem zwei Händler Gemüse und Gewürze anbieten.
Der eine davon nennt seine Produkte schlicht „Kapadokya Turkish Viagra“ – wie auch sonst?
Am Abend gibt es dann ein tolles Buffet voller leckerer Einzelgerichte, da ist für jeden etwas dabei. Das ist auch wichtig, denn ab danach gibt es für die Ultraläufer nur noch „TravelLunch“. Zum Frühstück und zum Abendessen. Oder eben Riegel, Gels, PowerGums und sonstige Läufernahrung …
Mein Koffer ist noch immer nicht da, man verspricht ihn mir aber auf 21.30 Uhr, immerhin. Dennoch fahre ich eine Doppelstrategie, miete mir für die erste Etappe ein GPS-Gerät, damit der Track drauf gespielt werden kann, ich leihe mir von Brice eine Laufhose aus, als Laufshirt soll das Veranstalter-Shirt dienen, die Füße sollten mit den The North Face – Schuhen, die ich eigentlich nur privat zum Alltagskleidung anziehe, gut behütet sein.
Und dann geht es früh in den Schlafsack. Es ist 21.30 Uhr, er ist noch nicht da, ich schlafe ein und ich träume von meinem Koffer.
Die bewegten und bewegenden Bilder des Tag im Camp gibt es hier:
Donnerstag, 23. Juli
Arbeitsbedingt muss ich heute Nachmittag nach Kempten, um morgen dort zu arbeiten. Bis 18 Uhr, keinesfalls länger!
Dann ins Auto, auf eine freie Autobahn hoffen und ab zum Flughafen Köln-Bonn, 5 Autostunden sollten reichen.
Dann sollte es 23 Uhr sein und ich habe noch Luft, um rechtzeitig einzuchecken, der Flieger startet dann um 01:15 Uhr am Samstagmorgen.
Und weil ich schon weg muss, habe ich gestern Abend noch meine Sachen für den Runfire Cappadocia gepackt.
Die alte Regel für den MdS (Marathon des Sables) lautet: packe den Rucksack nicht über 9 Kilogramm schwer, plus Wasser, versteht sich. Aktuell bin ich jetzt bei 7,5 Kilogramm, ich denke, das sollte funktionieren.
Ich hatte mir erst überlegt, auf den Schlafsack zu verzichten und nur einen „Cocoon“, einen Hüttenschlafsack, also ein Sackerl aus einem dünnen Baumwollstoff, mitzunehmen, Özge, die Managerin des Events, hat mich aber dann doch überzeugt. 10 Grad in der Nacht können ganz schön kalt sein, wenn Du kaputt bist, wenn Dein Körper auf Sonne eingestellt ist und wenn dann vielleicht sogar noch ein leichter Wind geht.
Eine dünne Alumatte dazu, für die bessere Lösung ist kein Platz, sieben vegetarische TravelLunch-Packungen, immer für den Abend, sieben TravelLunch Müsli Packungen für die Frühe, sieben SPONSER Riegel „Salt and Nuts“, sieben SPONSER Gums, je sieben rote und blaue Tuben SPONSER Gels, immer für den Tag während der Läufe, das sollte als Nahrung reichen. Dazu eine ganze Dose Salztabletten.
Ein Paar Wechselsöckchen zur Sicherheit, sogar ein Wechselshirt, totaler Luxus eigentlich, für die Nacht Skinfit Merino Unterwäsche, eine Mütze, falls es wirklich kalt wird in der Nacht, minimale Wasch- und Zahnputzutensilien, Erste Hilfe Set, Compeed Blasenpflaster, ganz dünne Sandalen für die Camps, Garmin GPS, Kopflampe, Ersatzbatterien, feuchtes Toilettenpapier in einer Frischebox, so viel Luxus muss sein, ein Kompass, eine Kamera und mein Reise-Akku.
Später kommt dann noch das Handy dazu und ein paar notwendige Ladekabel, das sollte reichen.
Die Laufkleidung von den Schuhen bis zur Schirmmütze geht in den Koffer, ebenso die Wäsche, die ich für morgen in Kempten, für den Reisetag und für die Zeit nach dem Event benötige. Den Tab werde ich auch im Reisegepäck lassen und nicht mit in den Rucksack packen. Zu schwer, zu empfindlich. Ich will also diesen Daily Blog vom Handy aus aktualisieren.
Was so weit weg war, ist nun so nah. Das Fieber steigt, die Anspannung, die Hoffnung, aber auch die Sorge, etwas Wichtiges vergessen zu haben. Wird schon gut gehen, denke ich.
Beim MdS hat es ja auch geklappt …