Der Kater nach dem MIAU

Es ist bald Mitternacht, irgendwo vielleicht 25 Kilometer vor Innsbruck.
Österreich hat viele wunderschöne Stellen, diese Stelle hier in dem Tal vor Innsbruck gehört sicherlich nicht dazu. Schon gar nicht, wenn es dunkel ist.

„Warum tust Du Dir das an?“ frage ich mich. „Brauchst Du so viel Frust und Pein wirklich?“

Ich habe mich ein paar Mal schon fast verlaufen, aber bisher war das noch akzeptabel. Mein Glück war, dass ich sehr früh gestartet bin, schon um drei Uhr, statt der beiden normalen Starts um 5 Uhr für die anderen und um 7 Uhr für die schnellen Läufer.
Ich war zwar nach der langen Trainingspause nicht so unfit wie ich es befürchtet hatte, aber ich habe zu diesem Zeitpunkt in der österreichischen Nacht längst vom Laufen auf eine Mischung aus schnellem Gehen, meinem gefürchteten Stechschritt, und Laufen umgeschaltet, wobei das Gehen das Laufen immer stärker überwiegt.
Ich weiß genau, dass die Wegmarkierungen über diese Brücke geführt haben, aber jetzt finde ich keinen Weg mehr, keinen Anschluss und ich habe keine Idee, wie es weiter gehen könnte.

Zu meinem Glück kommt mir der Nürnberger Armin Roucka entgegen. Er sucht auch das, was ich nicht finden konnte. Wenn man aber gemeinsam verloren ist, dann beruhigt das ein wenig und wir entscheiden uns, einfach der Bundesstraße 171 zu folgen, einfach Richtung Innsbruck. Keine schlechte Idee eigentlich, wenn da Bürgersteige gewesen wären. Die aber gab es immer nur in den Örtchen, um danach wieder zu verschwinden.


Also laufen wir hintereinander auf der linken Seite, bewaffnet mit einer Sicherheitsweste, dem Kopflicht und der Erkenntnis, dass es so weit nicht mehr sein kann, nicht mehr sein darf.
Wie aus dem Nichts erscheint dann aber irgendwann doch wieder ein Richtungspfeil. Ich könnte jubeln, aber dafür bin ich zu müde und zu kaputt.
Armin lässt sich jetzt wieder etwas zurück fallen, vielleicht war ihm mein Stechschritt zu schnell oder meine immer seltener werdenden Ausflüge ins Laufen. Armin ist schon in einem Zustand, in dem er ausschließlich noch gehen will, es sei ihm gegönnt, denke ich, immerhin ist er zwei Stunden nach mir gestartet.
Vielleicht wollte Armin aber auch nur meiner Konversation entgehen. Oder Ruhe haben.
Der Radweg nach Innsbruck nimmt überraschende Wendungen, die ich glücklicherweise alle sehe. Nur Armin sehe ich nicht mehr und so hoffe ich, dass er diese Tücken ebenfalls erkennt.

Aber irgendwann erwischt es mich doch wieder, das Verlaufstierchen.
Ich schwanke und rate und nehme das Roadbook zur Hand, das, nebenbei bemerkt, extrem schlecht gemacht war.
Aber ich brauche in diesem Moment doch keine Hilfe, weil mir geholfen wird. Eine der Betreuerinnen eines längst vergangenen Verpflegungspunktes sieht mich und erklärt mir, dass ich am einfachsten wieder die Bundesstraße entlang gehen sollte bis zum Kreisverkehr, dort die erste Ausfahrt nach rechts nehmen, dann wäre es gleich bei den „Kristallwelten“.
Es ist weit bis zum Kreisverkehr und es gibt wieder keinen Bürgersteig und so trotte ich vor mir her, versuche, die PKW-Fahrer mir meinem Kopflicht nicht allzu sehr zu stören, hoffe, nicht von den hell aufgeblendeten Fernlichtern irritiert zu werden und beschließe, jeden Autofahrer irgendwann auch einmal anzufahren, der das in den nächsten Stunden mit mir tun will.
Will aber keiner.

Der Kreisverkehr kommt näher, die Ausfahrt kommt, ich frage mich, ob die Ausfahrt für mich eher ein Ausgang ist, ich fahre ja nicht – und ein Auslauf kann es auch nicht sein, weil ich kaum noch laufe und so trotte ich Schritt für Schritt weiter, bis ich ein Schild sehe, auf dem steht: „Kristallwelten“ nach links. Und links sind auch diese „Kristallwelten“, das Imperium der Swarovski-Steine. Ich schaue noch einmal auf dem Roadbook nach. „Gegenüber den „Kristallwelten““ steht da, also hat die Kollegin, die mir vorhin den Weg erklärt hat, diese Abbiegung vergessen.
Ich schlurfe nach links und wieder nach rechts und befinde mich auf dem großen Parkplatz von Swarovski, niemand sonst ist da, vor allem aber kein Verpflegungspunkt. Da glitzert und funkelt auch nichts. Der Parkplatz vor dem Kristall-Imperium ist öde und staubig wie der Parkplatz vor einem örtlichen Bauhof.


Das einzige, was blinkt, ist Daddy Kalinowski, ganz weit hinten, auf der Straße, auf der ich wäre, wenn ich nicht nach links abgebogen wäre. Er hat mich gesehen und so versuche ich, diesen letzten Verpflegungspunkt, den VP7, zu erreichen.
Susanne Alexi war auch da, mal wieder. Und Julia Vieler.
Ein Stück Vertrautheit.
Ich muss im Himmel sein.

Ich nehme nur wenig zu mir, weil ich weiß, dass ich für die restlichen 20 Kilometer noch über 12 Minuten pro Kilometer Zeit hätte, um wenigstens unter de2 24-Stunden-Marke zu bleiben. Da geht noch was, denke ich.
Keine 6er-Zeit mehr, aber so eine 8er Zeit, die sollte schon drin sein. Bis dahin bin ich immer in 5-Kilometer-Einheiten gelaufen und ich habe darauf geachtet, dass ich nie mehr als 40 Minuten dafür gebraucht habe. Auch nicht am Berg, auch nicht, wenn ein Verpflegungspunkt etwas Zeit gekostet hatte.
Auf ebenem und asphaltiertem Geläuf sollte das also möglich sein.

Susanne hilft mir noch, meine Batterien des Kopflichts erst in der Bauchtasche zu finden und dann zu wechseln. Diese Lektion habe ich beim RheinBurgenWeg-Lauf gelernt. Wenn Du versuchst, in stockdunkler Nacht die Batterien zu wechseln, dann bist Du verloren. Nur bei Vollmond kannst Du auf eine zweite Lampe oder einen Lauffreund, der Dir leuchtet, verzichten.

Ein schneller Läufer, wohl einer von denen, die vier Stunden nach mir gestartet sind, begleitet mich ein Stück. Ich weiß nicht wer, ich weiß nicht warum, aber ich weiß, dass mir das sehr gut tut. Nach einer Weile aber ist er vor mir. Mein „Slowtab“ hat ihm wohl nicht gefallen. Und ich musste auch wieder ein paar Schritte gehen.
Er bleibt aber in Sichtweite. Lange.

Genau so lange, bis ich mich wieder verlaufe.
Rechts? Links? Geradeaus? Niemand ist zu sehen, keine Wegmarkierung ist zu erkennen, aber ein Licht. Eine Tankstelle. Dort bekommst Du mehr als nur Benzin, dort gibt es auch Rat.
Drei Männer sitzen dort in dem durch dickes Glas abgetrennten Teil, stark rauchend, um dem Namen dieser Raucherecke Ehre zu machen. Ganz kurz frage ich mich, ob Raucher nur deshalb rauchen, damit sie nicht für eine Viertelstunde zu den Nichtrauchern gehören.
Aber sie sind sehr nett und begrüßen mich wie einen alten Freund, das macht Mut und sie fragen mich, ob ich auch zum „Goldenen Dachl“ will. Da waren wohl schon mehrere auf die gleiche Idee gekommen wie ich.

Aber warum können die Drei nicht einfach eine klare Frage beantworten? Wo, Sacklzementnocheinmal, geht es auf den Radweg nach Innsbruck?
Was ich aber erlebe, ist, dass zwei der drei sich streiten. Der eine will mir wohl den Weg zum Radweg erklären, der andere hat einen viel einfacheren und sichereren Weg, auf den die beiden sich einigen. Sekunden fühlen sich an wie Minuten, wie Stunden gar, bis ich mit der Botschaft aus dem verqualmten Glaskäfig gehen darf, die Straße entlang zu laufen, dann beim „Red Zack“ Elektrohändler nach rechts einzubiegen, anschließend über das Feld auf dem Feldweg zu gehen und dann wäre ich auch schon im nächsten Örtchen.
Dort dann direkt nach links und dann „einfach die Bundesstraße entlang“. Ich wusste es!
Die Bundesstraße 171 nach Innsbruck hat es auf mich abgesehen.


Ich will nur noch nach Innsbruck, will mich nicht erneut verlaufen und so folge ich diesem Rat und der Bundesstraße und spare.
Insgesamt wohl so um die 2 Kilometer, denn meine GPS-Uhr, auf der beim VP7 noch rund 2 Kilometer mehr standen als auf dem Roadbook, zeigt einen Abschlusswert von 159,1 Kilometern, fast exakt das, was im Roadbook als Endstand angekündigt war.

Sogar zwei Polizeistreifen fahren ohne Meckern an mir vorbei, Bürgersteige gibt es wieder hauptsächlich nicht und PKW-Fahrer blenden zwar für entgegen kommende PKWs ab, nicht aber für entgegen kommende Läufer. Vielleicht tun sie das nicht, weil der PKW Fahrer sich mit seinem Fernlicht rächen könnte, mein Kopflicht vermag so viel Licht nicht herzugeben.
Ich bin im Tran, als ich in Innsbruck ankomme, ich fühle mich ausgelaugt und leer. Stolz sieht anders aus.

So viel zum Kater nach dem MIAU.

5 Kommentare zu “Der Kater nach dem MIAU

  1. lieber tom, bewegender bericht, scheiss orientierung, dake dass du mitteilst wie es dir ergeangen ist, im innen und aussen. das ist eher unüblich. gerade in solchen situationen. ich wünsche dir von herzen gute erholung und, dass beim nächsten lauf die markierungen da sind wo sie sein sollen. nämlich sichtbar.
    Herzlich
    guido

  2. Uff, Tom, das ist mal ein Brett, danke fürs Mitmehmen, wenn auch nur im Geiste.

    Ganz ganz große Leistung, die mal wieder zeigt, es ist nie der Körper der nicht mehr will, der Geist siegt!

    Entspann Dich und bis dahin.

  3. Wieder mal ein sehr schön geschriebener Bericht von einem Lauf, lieber TOM. Da kann ich mich sehr gut in Dich reinversetzen und das nachempfinden, wenn man keine Markierung mehr findet. Das würde mir genauso gehen. Aber am Ende ist das ja dann alles egal und wie weggepustet, da regiert die Freude, es wieder einmal geschafft zu haben….

    Mit sportlichem Gruß, AnRDeas

  4. Hallo Tom,
    als ich morgens vor dem Frühstück per Webcam das Ziel am goldenen Dachl anschaute war ich eine Weile doch recht traurig, dass ich wenige Wochen vorher meine MIAU Teilnahme absagen musste, da eine Hüftgelenkentzündung längere Trainingseinheiten verhinderte. Aber wenn ich Deinen Text lese bin ich doch recht froh, dass ich statt dem Verlauf-Miau nun drei weitere „normale“ Ultratrails in mein Programm genommen habe. Keep on running! Wir sehen uns ja dann voraussichtlich wieder im Karwendel. Günter

  5. Pingback: Marshmallows auf Schwänen « TomWingo's Lauf BLOG

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