In Hamburg lebten zwei Ameisen,
Die wollten nach Australien reisen.
Bei Altona auf der Chaussee,
Da taten ihnen die Beinchen weh,
Und da verzichteten sie weise
Dann auf den letzten Teil der Reise.Joachim Ringelnatz
(1883 – 1934), eigentlich Hans Bötticher, deutscher Lyriker, Erzähler und Maler
Die Idee war schon groß. Und ich erfuhr von ihr schon recht frühzeitig.
Schon im Frühjahr 2014 fragte mich Oliver Witzke, ob ich ihn bei seinem Plan, vom 01. November bis zum 09. November 2014 von Bonn nach Berlin zu laufen, begleiten würde.
Bonn? Berlin? 9. November? Da war doch was …
Der 9. November, einst einer der schrecklichsten Tage der Deutschen, hat ja vor 25 Jahren eine ganz neue, dieses Mal positive Bedeutung gewonnen. Während am 9. November 1938 noch eingeschlagen wurde, wurde am 9. November 1989 endlich eingerissen. Und statt „Kristall“, statt Scheiben und Glas, fiel stahlharter Beton der Geschichte zum Opfer und statt unschuldiger Juden wurde eine gesamte Staatsführung an diesem Tag attackiert.
Und so wurde genau 51 Jahre nach dem bitterbösen Unrecht auf deutschem Boden die frohe Botschaft geschrieben, die unsere Welt in eine friedlichere Zukunft führen sollte.
Ob wir diese friedlichere Zukunft aber tatsächlich leben, das jedoch steht leider auch 25 Jahre nach dem Mauerfall noch auf einem anderen Blatt.
Und zu diesem Jahrestag des Mauerfalls wollte Oliver also aus der alten Bundeshauptstadt Bonn nach Berlin, in die neue Bundeshauptstadt, laufen.
Irgendwann versprach ich ihm, ihn wenigstens an den ersten beiden Tagen zu begleiten, mehr schien mein Terminplan im Vorweihnachtsgeschäft nicht herzugeben.
Doch dann kam alles anders.Nach dem plötzlichen und für mich äußerst schmerzvollen Tod meines Bruders Wolf Siegfried in Berlin hatte ich zuerst die Idee, eventuell doch die gesamte Strecke mit Oliver zu laufen, vielleicht kurz nach der Beisetzung meines Bruders, vielleicht sogar hin zur Beisetzung in Berlin Schöneberg, je nachdem, wann die Beisetzung endgültig stattfinden würde. Dann wurde die Beisetzung auf den Donnerstag, den 06. November 2014 um 10 Uhr festgelegt und deshalb vereinbarte ich mit Oliver, ihn immerhin vier komplette Lauftage und noch einen Teil der fünften Etappe zu begleiten, also ungefähr bis zur ehemaligen innerdeutschen Grenze.
Meiner Achillessehnenverletzung geschuldet war ich seit Ende August erst einen Monat lang gar nicht und dann nur wenig und nie wieder über 27 Kilometer gelaufen, solch eine gewaltige Strecke drohte also für mich zum Fiasko zu werden.
Die erste Etappe begann am Samstag, den 01. November um 9 Uhr direkt am Bonner Marktplatz vor dem wunderschönen Rathaus der Stadt. Das Wetter war unser Freund. Es war zwar noch etwas frisch und leicht windig, aber die Sonne stand hell am Himmel und wir starteten bei optimalen Läuferbedingungen.
Wir starteten zu Dritt, Holger aus Remscheid-Lennep, der auch mit seiner Sandra unser „Herbergsvater“ der kommenden Nacht war, selbst mit einer „Persönlichen Bestzeit“ von 2:56 Stunden ein Marathoni der besseren Sorte, begleitete uns durch Troisdorf und die ersten Kölner Stadtteile hindurch bis nach Köln-Dellbrück. Dort entschied er sich für die Bahn, um alles für unser Eintreffen bei ihm vorzubereiten. Das war nach knapp 30 Kilometern auch in etwa der Zeitpunkt, an dem es auch bei mir begann, weh zu tun, vor allem in den Oberschenkeln, in denen ich rechts und links ziemlich mittig einen schmerzhaften Druckpunkt spürte. Außerdem begann ich damit, mir in einer neuen Dreiviertelhose einen „Wolf“ zu laufen.
Eine Pause machten wir danach gleich an einem türkischen Imbiss. Die regulären Läden hatten ja wegen des allerheiligsten Feiertags leider alle geschlossen. Für Oliver gab es einen Döner, für mich einen Couscous-Salat und einen Bohnensalat in roter Sauce. Das tat gut, schmeckte halbwegs ordentlich und wir gingen weiter. Später dann führte uns die gewählte Strecke auch an Olivers Heimstatt vorbei, ich nutzte die Gelegenheit, um in einem Café etwas zu trinken. Warum er die Strecke so gewählt hat und nicht den direkten Weg nach Remscheid-Lennep, weiß ich nicht, angesichts solch einer großen Herausforderung, alle neun Etappen zusammen gerechnet, hätte ich es nicht getan und ich hätte mit jedem Kilometer gegeizt.
So aber sah ich „Schloß Burg“ und die dorthin führende Seilbahn mal von unten und eine zauberhafte Altstadt von Solingen-Unterburg, die es tatsächlich wert war, belaufen zu werden.
Bis Remscheid-Lennep zog sich der Weg dann noch hin über Hügel und Täler und schlussendlich über eine tiefnasse, matschige und scheinbar endlose Wiese hinweg und ich freute mich, nach 69 Kilometern gegen 19.30 Uhr endlich das wohlige Warm des Hauses von Sandra und Holger zu sehen. Der Empfang war dann liebevoll, die Kerzen auf dem Eingangspodest leuchteten in die für Novemberverhältnisse extrem warme Nacht hinein. Wir wurden dort bestens versorgt, sowohl am Abend als auch am darauf folgenden Morgen.
Aber ich musste mit Oliver wegen des Aufstehens und des Weiterlaufens verhandeln. Ich halte mich ja für einen Langschläfer unter den Ultraläufern. Ungern starte ich vor sechs Uhr in der Frühe. Aber später starte ich auch nicht gerne. Dennoch schlug ich einen Start um 7 Uhr vor, Oliver wollte mir mit 8 Uhr entgegen kommen und wir einigten uns auf 7.30 Uhr. Kurz vor Mittag also …
Das Gute daran war, dass wir schon gute 10 Kilometer hinter uns hatten, bis wir den Startzeitpunkt des Vortages erreicht hatten. Das Schlechte daran war, dass wir für die restlichen 56 Kilometer noch genauso lang brauchen sollten wie für die 69 Kilometer des Vortages.
Wir legten regelmäßige Trinkpausen ein (Lieber Weihnachtsmann, schenke dem Oliver bitte eine Trinkblase für seinen Rucksack), ich lernte Freunde an einer Bushaltestelle und seine Tante und seinen Onkel in deren Häuschen kennen. Und wir verloren uns an einer Stelle, fanden uns dann aber glücklicherweise wieder.
Ein paar Mal musste ich ihn dafür anrufen. Stets bekam ich eine Leitung, aber ich konnte ihn nicht hören. Nach vier oder fünf Versuchen erst fiel mir auf, dass bei mir noch die Kopfhörer eingesteckt waren … da war sie wieder, die Geschichte mit dem Hirn eines Läufers und der Größe desselben während eines Laufes …
In Hagen erlebten wir Schönes. Erst ein wildes Gehupe hinter uns. Sandra und Holger hatten sich aufgemacht, uns auf dem Weg zum Freilichtmuseum in Hagen kurz an der Strecke aufzusuchen, nicht ohne uns einen Schokoladenkuchen, mit bunten Smarties bedeckt, mitzubringen. Später dann, am Hagener Hauptbahnhof, gab es für Oliver einen Burger und bei mir leuchteten die Augen, weil es einen auch an diesem Sonntag offenen „REWE to go“ gab. So konnte ich mir einen Linsensalat aus kleinen roten Linsen mit aufgelegtem Ziegenfrischkäse gönnen, dazu einen Gurkensalat in einer weißen Sauce.
In Menden aber war die „vis comica“ von Oliver ziemlich am Ende. Wie beim römischen Legionärsausblilder Nixalsverdrus bei „Asterix als Legionär“ war die „Kraft der Komik“ bei Oliver dem Zweifel gewichen. Er sah an der Bushaltestelle nach der Buslinie 514 zu unserem Etappenziel Wickede (Stadt). „Nur aus Interesse,“ selbstverständlich. Aber er äußerte schon, dass wir das nächstgelegene Hotel aussuchen sollten, das kommen würde und nicht das, das uns HRS ausgewählt hatte. Am Ortseingang von Wickede war das dann die „Alte Poststube“, zwei Kilometer vor dem Stadtkern von Wickede, 66 Kilometer hinter Remscheid-Lennep.
Mir ging es seit dem Nachmittag immer besser, der Hirschtalg schonte mich im Schritt, die Oberschenkel waren schwach, aber ohne Schmerzen und die neuen Einlegesohlen entlasteten meine Achillessehne, „alles paletti“ sozusagen.
Gegessen hat Oliver dann, wie auch am Vorabend, eher wenig. Ein Fehler, darauf wiesen ihn am Abend zuvor schon Holger und in Wickede auch ich hin.
Wir gingen zeitig zu Bett, der Wecker war auf 6 Uhr gestellt, spätestens um 7 Uhr sollte es weiter gehen, immerhin auf eine Etappe von 71.5 Kilometer nach Paderborn. Ständig geradeaus, an der B1 entlang, alles Straße, wie fast die gesamte Strecke der beiden Tage zuvor.
Daraus aber wurde … nichts.
Oliver konnte am Morgen nicht mehr auftreten, alles tat weh. Was für ein Pech!
Sein Fersensporn, was für ein Frust!
Weniger für mich, da ich sowieso nur bis nach Seesen gelaufen wäre und mein Lauf somit keinen „höheren Abschluss“ gehabt hätte. Aber eben für Oliver. Für sein Bonn-Berlin-Projekt. Für seinen Spendenlauf. Für sein Selbstvertrauen.
Aber so ist das Ultralaufen eben. Nicht jeder, der einen schnellen Marathon laufen kann, kann auch richtig lange laufen. Und nicht jeder, der einen Hundermeiler stemmen kann, kann auch Etappenläufe bewältigen. Und alles auch umgekehrt. Wer einen 300 Kilometer Etappenlauf hinbekommt, der kann noch nicht automatisch eine TorTOUR durchstehen.
Es war also der Morgen des Erkennens, der Morgen der Wahrheit.
Und wahr war, dass wir sogar zum Wickeder Bahnhof ein Taxi bestellen mussten, um dann von dort aus erst nach Hagen und dann nach Wuppertal zu fahren. Dort trennten sich dann auch unsere Wege.
Was bleibt nach solch einem Erlebnis?
Oliver muss sich diese Frage selbst stellen und beantworten. Ich könnte mir aber vorstellen, dass sein Ehrgeiz, mal wieder einen schnellen Marathon zu laufen, gestiegen sein dürfte. Sicherlich wird es sich aber auch fragen, ob ein einziges Hundert Kilometer Rennen und viele Marathons und ein paar Läufe „dazwischen“ ausreichen, um sich so viele Straßenkilometer zuzumuten.
Ich wiederum fühle mich wie die beiden Ameisen aus dem Gedicht von Joachim Ringelnatz auf der Chaussee in Altona …
Und es passt zu einem Laufjahr 2014 mit seinen Ups, der Kirgistan-Reise, dem für mich fantastischen Ergebnis beim Ultra Tramuntana auf Mallorca und seinen Downs, mit dem Pech, den Chip beim TGC verloren zu haben, mit der Abkürzung der Laufstrecke von Menorca von 185 K auf 100 K und mit den DNFs in Andorra, beim SIT und beim PTL, mit dem verpatzten Sommerurlaub auf Sumatra, der schon in Amsterdam am Check-In scheiterte, dem abgesagten Spendenlauf und der entzündeten Achillessehne, meiner ersten „richtigen“ Sportverletzung, die mehr als nur meinen Körper dauerhaft geschwächt hat.
Aber eines kann uns keiner nehmen: es waren zwei sonnige Lauftage im November, herrliches, fast zu warmes und sonniges Herbstwetter. Es waren insgesamt 135 Kilometer, die wir gelaufen sind, immerhin.
Und ich konnte einen weiteren Läufer näher kennen lernen und wieder die These bestätigt finden, nach der alle Ultraläufer irgendwie eigen, ja, irgendwie verrückt, sind.
Jeder von uns hat seine Ups und Downs, seine Vorlieben und Macken, seine Stärken und eben auch die Dinge, die manche anderen einfach nicht verstehen.
Oder nicht verstehen wollen.
Und da ist nicht zuletzt auch die Erkenntnis, dass es gut ist, wenn man sein Leben damit zubringt, mit verrückten Menschen merkwürdige Dinge zu tun.
Diese zwei Tage werden wohl ewig in meiner Erinnerung bleiben und es wird eine Kerbe in mein kleines läuferisches Kerbhols geschnitten sein, wie es nur wenige andere Kerben auf meinem läuferischen Kerbholz gibt.
Tom Wingo, we all never walk alone …
Bei Bonn lebten zwei Ameisen,
Die wollten nach Berlin reisen.
Bei Wickede auf der Chaussee,
Da taten ihnen die Beinchen weh,
Und da verzichteten sie weise
Dann auf den letzten Teil der Reise.frei nach Joachim Ringelnatz
Eine schöne Schilderung! Schade, das Olivers Körper nicht mehr mitgespielt hat, das Etappenziel dieses Tages wäre bei mir zu Hause in Paderborn gewesen, hätte euch gern persönlich kennen gelernt. Ein tolles, aber eben auch sehr ambitioniertes, vielleicht überambitioniertes Projekt.
Lieber Christoph,
ich hätte auch gerne Dich und Deine Wohnung in Paderborn besucht. Wir hatten sogar diskutiert, ob ich nach Paderborn laufen und Oliver dorthin Bus fahren sollte, um danach wieder planmäßig weiter zu machen oder ob wir beide nach Paderborn fahren sollten, gewissermaßen einen Frei-Tag einlegen sollten.
Aber Olivers Aussichten, nach Paderborn wieder laufen zu können, waren zu gering.
Vielen Dank an dieser Stelle noch einmal an Dich, dass Du uns Haus, Hof und Hund angeboten hast. Ich bin immer wieder gerührt, wie nett und hilfsbereit doch Läufer zu Läufern sind.
Ganz großes Kino von Dir, danke!